04.06.2014
DJHT: Alle anders? Alle gleich? Viele anders!
Ein Fachforum beim Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag offenbart, wie unterschiedlich die Situation der Kinder- und Jugendhilfe in einzelnen Ländern Europas immer noch ist.
Alles hatte so schön begonnen beim Fachforum „Alle anders? Alle gleich? Kinder- und Jugendhilfe in Europa“. Professor Andreas Thimmel von der Fachhochschule Köln hatte den 60 Besuchern erklärt, wie wichtig eine „gemeinsame Sprache“ für die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Jugendarbeit ist. Klar, nur wer für die gleichen Dinge die richtigen Begriffe verwendet, der kann im Austausch seinem Gegenüber das eigene System erklären und für das eigene System Lehren ziehen. Das allein ist schon schwierig genug, erklärte der Professor, weil sich doch hinter Begriffen immer kulturelle, individuelle, systemische und historische Besonderheiten verbergen. Nur wer sich mit diesen Besonderheiten intensiv beschäftigt, der wird im internationalen Austausch nachhaltig erfolgreich sein. Erasmus+, so Professor Thimmel weiter, kann hier mit seinen neuen Förderinstrumenten wertvolle Hilfe leisten „und uns einen riesigen Schritt vorwärts bringen.“
So weit so gut. Nur konnte man im Fortgang des Symposiums den Eindruck haben, dass sich Europa eher zurück entwickelt als weiter. So zumindest stellte Dr. Maria Herczog von der ungarischen Family, Child, Youth Organisation die Situation in ihrem Land dar. Die Regierung Orban mit ihrer stramm nationalistischen Klientel hatte auch bei der Europawahl im Mai Zugewinne verzeichnet und damit anti-europäische Tendenzen verstärkt. Ein Bild, das wir auch aus anderen europäischen Ländern kennen. „Die Schere von Arm und Reich geht enorm auseinander“ erklärte die Jugendforscherin und beschrieb dramatische Situationen für mehr als eine Million ärmster Menschen in Ungarn. Um diese Leute sollte sich staatliche Jugendhilfe besonders kümmern, doch Dr. Herczog sprach von „geringster Wertschätzung“ für die Arbeit von Sozialarbeitern. Verstärkt wird diese Tendenz, so die Aussage der leidenschaftlichen und beeindruckenden Wissenschaftlerin, durch eine Absenkung des Schulpflicht-Alters von 18 auf 16 Jahre. „Die Bildung für alle bleibt auf der Stecke“, und durch die zunehmende Zentralisierung der „Kontrollfreaks in der Regierung“ bleibt die Jugend auf der Strecke.
Diesem düsteren Bild der nationalen Jugendhilfe setzte die Niederländerin Corinna Messing vom Netherlands Youth Institute ein neues Konzept ihrer Regierung entgegen. Zum 1. August soll die Jugendhilfe strukturell vollkommen umgekrempelt werden. Im Zuge einer umfassenden Dezentralisierung gehen „viel Verantwortung und viel Geld“ von der Zentralregierung an die Kommunen und Regionen. „Wir kehren damit zurück zu einem sehr ökonomischen Ansatz, der uns als Handelsnation eigen ist“, erläuterte Messing das Konzept. Alle Menschen müssen am Gesellschaftssystem partizipieren, „das gilt auch für die Jugendlichen.“ Wer sich beispielsweise nicht selbst um einen Job kümmert „landet schnell am Rand der Gesellschaft“ mit allen dazu gehörigen Problemen. Hier soll die Jugendhilfe effizienter eingreifen. Durch den neuen Ansatz wandert mehr Verantwortung in die Hände von den Personen und Fachleuten, die direkt mit der Basis arbeiten. „Die Jugendhilfe wird damit enorm gefordert“, prognostiziert die Niederländerin.
Die Systeme der Jugendhilfe könnten also kaum unterschiedlicher sein, und wo viel Licht in den Niederlanden zu erwarten ist, da scheint viel Schatten in Ungarn zum Dauerzustand zu werden. Daran wird auch Pascal Lejeune nichts ändern. Der für Erasmus+ zuständige Referent bei der EU-Kommission konnte denn auch nur noch einmal leidenschaftlich für das neue Programm werben, das als eines der wenigen in Europa mit massiven Zuwächsen ausgestattet ist.
„Wir haben in den letzten Jahren beobachtet, dass von der Jugendhilfe immer mehr erwartet wird, weil viele Bildungssysteme teilweise versagen und Lücken geschlossen werden sollen“, berichtete Lejeune den Symposiumsbesuchern. Vielleicht ist das die Chance, die sich den engagierten Europaprogrammen bietet. Eine schwierige Hoffnung, denn gleichzeitig nimmt die schon erwähnte Europaskepsis zu – der berüchtigte „braindrain“, die Abwanderung von qualifizierten Menschen aus ihren armen Heimatländern in reiche Staaten schürt die Aversion gegen alles, was mit Europa zu tun hat. Auch das wurde in Diskussionsrunden mit den Besuchern deutlich.
Der Jugendhilfe, so der Tenor des Fachforums, muss in Europa eine wichtige Rolle zukommen. Gut, wenn man dann eine gemeinsame Sprache spricht, wie Professor Thimmel das fordert. Der Weg dahin ist zurzeit aus vielen verschiedenen Gründen schwierig.
(Jörg Wild für JUGEND für Europa)
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