12.08.2014

"Europa ist eine der coolsten Ideen, die wir bis jetzt hatten"

Auch wenn es manchmal so wirkt, aber das Gegenteil ist der Fall: Europa ist kein abgeschlossenes, einheitliches und klar definiertes Gebilde, es ist ein offenes politisches Projekt, ein Prozess der Europäisierung. Umso mehr stellt sich die Frage nach seiner Begründung und Identität, seiner Realität und gegenwärtigen Praxis, aber auch nach seinen Perspektiven und weiteren Entwicklungen.

Ein Beitrag von Hans-Georg Wicke, Leiter von JUGEND für Europa.

Ulrich Beck gibt in seiner aus Anlass des Fachkongresses «Building Tomorrow's Europe» verfassten Notiz für JUGEND für Europa vier bedenkenswerte Antworten auf die Frage nach dem Sinn und Zweck der EU im 21. Jahrhundert:

  •  Aus Feinden wurden Nachbarn. Vor dem Hintergrund der Gewaltgeschichte Europas kommt das einem Wunder gleich.
  • Europa ist eine Versicherungspolice dagegen, dass die europäischen Nationen im schwarzen Loch der globalen Bedeutungslosigkeit verschwinden.
  • Das Modell der nationalstaatlich-industriekapitalistischen Moderne hat sich als fehlerhaft, ja als selbstzerstörerisch erwiesen.
  • Die Europäische Union ist besser in der Lage, nationale Interessen wahrzunehmen, als es die Nationen alleine jemals könnten.

Gleichzeitig jedoch befindet sich Europa inmitten einer Krise. Aus der Finanzkrise ist eine politische, soziale und gesellschaftliche Krise geworden, und inzwischen eine europäische Krise: Die Sinnhaftigkeit der EU wird bezweifelt. Die Weiterentwicklung des europäischen Projektes behindert. Der Vorrang des Nationalen wird wiederbelebt. Die Solidarität in Europa bröckelt. Das soziale Europa wird weiter zurückgedrängt. Europäische Werte werden auf den Kopf gestellt. Europa schottet sich ab.

Gerade junge Menschen sind von den Auswirkungen europäischer Wirtschafts- und Finanzpolitik, die geprägt ist vom Vorrang nationaler Interessen und sich verflüchtigender europäischer Gemein-samkeiten, betroffen. Das soziale Leben junger Menschen gerät unter Druck, mit all seinen negativen Auswirkungen auf Einstellungen und Bewusstsein. Grundlegende Zielperspektiven von Jugendpolitik drohen komplett zu scheitern. Gelingendes Aufwachsen, das Wohlbefinden und die Entwicklung von Autonomie junger Menschen sind keinesfalls mehr gesichert und an vielen Orten in Europa mehr Wunsch denn Realität.
Wir dürfen trotz aller Mängel und Fehlentwicklungen nicht zulassen, dass Europa zum Feindbild wird. Europa gilt es gegen antieuropäische Tendenzen zu verteidigen.

Es geht um die Neu(be)gründung Europas, um einen neuen, veränderten Prozess der Europäisierung, der Europa vom Kopf auf die Füße stellt, ein neuer identitätsstiftender Europäisierungsprozess, der aus den Verwaltungen und Konferenzräumen herauskommt und das tatsächliche Leben der Menschen in den Mittelpunkt stellt und in dem junge Menschen eine besondere Rolle spielen.

1. Europa tut spürbar etwas für die Lebenssituation junger Menschen

Ein veränderter Prozess der Europäisierung bedarf der Stärkung des sozialen Europas, der Stärkung europäischer Handlungsfelder mit lebensweltlichem Bezug. Europa benötigt eine umfassende, ganzheitliche Jugendpolitik, die junge Menschen in den Mittelpunkt stellt und gemeinsam Verantwortung übernimmt für die Gestaltung von Lebenslagen und das gelingende Aufwachsen junger Menschen: Eine Querschnitts-politik, die die verschiedenen Lebensbereiche junger Menschen umfasst und eine Ressortpolitik, die den speziellen Bereich der Jugendpolitik und seine Instrumente stärkt.

Eine Jugendpolitik, die mehr ist als jugendpolitische Zusammenarbeit und die anerkennt, dass die Eröffnung individueller Lebenschancen für junge Menschen auch in Europa eine Gestaltungsaufgabe in privater und öffentlicher Verantwortung ist. Junge Menschen haben ein Recht auf eine umfassende und ganzheitliche Jugendpolitik in Europa und in den Mitgliedstaaten, die die Chancen, die Europa bietet, allen jungen Menschen eröffnet und die Risiken, die sich aus Europa für junge Menschen ergeben, begrenzt. Europäische Jugendpolitik ist Antwort auf den Bedarf transnationaler Politikstrategien für junge Menschen in einem integrierten Europa und sie hilft, nationale Jugendpolitiken vergleichbarer Qualität weiterzuentwickeln.

2. Junge Menschen engagieren sich in und für Europa

Europa kann nicht ohne engagierte junge Europäer funktionieren, mehr Europa nicht ohne die aktive europäische Bürgerschaft junger Menschen. Eine reflektierte europäische Identität und europäisches Bewusstsein junger Menschen sind Voraussetzung und Ergebnis eines Europäisierungsprozesses. Erasmus+ JUGEND IN AKTION stellt die europäischen Werte in den Mittelpunkt seiner Arbeit und bietet Raum für Information über Europa, europäische Bildung, Wissen über Europa, europäische Erfahrungen, Engagement in Europa und für Europa, Beteiligung an Europa und Verantwortungsübernahme für Europa.

Ein erweiterter Europäisierungsprozesses benötigt jedoch die Entwicklung einer gemeinsamen, gesell-schaftlich breit getragenen Initiative zur aktiven europäischen Bürgerschaft junger Menschen, in Deutschland und Europa. Ein neuer Europäisierungsprozess benötigt ein Freiwilligenjahr für alle jungen Menschen, mehr Freiwilligendienste in und für Europa.

Mit dem Europäischen Freiwilligendienst haben die Jugendprogramme der EU einen wesentlichen Grundstein gelegt und erstmals ein europaweit getragenes Modell für Freiwilligendienste und gemeinsame Qualitätsstandards entwickelt. Ihn gilt es zu einem Freiwilligendienst für alle Jugendlichen auszubauen.

3. Junge Menschen leben Europa

Ein erweiterter Europäisierungsprozess verlangt, dass Lernerfahrungen durch grenzüberschreitende Mobilität nicht länger Ausnahme, sondern als ein Aspekt des Rechts auf gesellschaftliche Teilhabe Normalfall für junge Menschen sind. Erasmus+ leistet hierzu wesentliche Beiträge.

Erasmus+ JUGEND IN AKTION ist inzwischen das größte Förderprogramm für internationale Jugendarbeit in Deutschland. Aber die Ermöglichung von Lernerfahrungen durch grenzüberschreitende Mobilität ist mehr, sie ist gemeinsame Verantwortung von EU, Bund, Ländern und Kommunen. Um sie weiterzuentwickeln, ist die Umsetzung von getroffenen Vereinbarungen zur Förderung von Mobilität und dem Abbau von Mobilitätshindernissen notwendig.

Der Jugendbereich benötigt die Entwicklung eines europäischen und nationalen Aktionsplans für die Mobilität junger Menschen in nicht formalen und informellen Lernkontexten, kommunale oder regionale Entwicklungsstrategien, den Aufbau von Projektverbünden, um mehr jungen Menschen Lernerfahrungen durch grenzüberschreitende Mobilität zu ermöglichen.

4. Es gibt ein europäisches zivilgesellschaftliches Gemeinwesen

Die Entwicklung eines europäischen Gemeinwesens steht im Zentrum eines neuen Europäisierungs-prozesses. Es geht um die Schaffung eines europäischen Alltags und lebensweltlichen Realität, die Europäisierung sozialer Praxis insbesondere in der Arbeit mit und für junge Menschen, die Entwicklung von Räumen der Teilhabe jenseits des Nationalstaates, den Aufbau einer europäischen Zivilgesellschaft. In einem solchen Europäisierungsprozess spielt der Jugendbereich eine besondere Rolle: Europäische Zusammenarbeit findet auf allen Ebenen, in öffentlichen und freien Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe statt, weniger punktuelle Zusammenarbeit sondern mehr kontinuierliche nachhaltige transnationale Kooperation, die Zusammenarbeit in europäischen Netzwerken und die Europäisierung wird zur Normalität sozialer Praxis.

Bundesländer und Kommunen übernehmen Verantwortung für ein mehr Europa, für eine dauerhafte grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Jugendfragen, die mehr ist mehr als Voneinander Lernen, sondern die Bearbeitung gemeinsamer Fragestellungen und Erarbeiten von gemeinsamen Lösungen ermöglicht. In einem erneuerten Europäisierungsprozess ist „youth work“ ein Schwerpunkt der jugendpolitischen Zusammenarbeit in Europa und die Europäisierung der Kinder- und Jugendhilfe, zivilgesellschaftlich ausgerichtete europapolitische Jugendkonzepte ein wesentliches Element der Jugendpolitik in Deutschland auf allen Ebenen.

5. Europa hat wirksame Förderprogramme für junge Menschen

Mit dem Start von Erasmus+ am 1.1.2014 ist zwar die 25-jährige Geschichte eigenständiger Jugendprogramme der EU beendet, es beginnt allerdings eine neue Erzählung über ein starkes EU Jugendprogramm in einem größeren Kontext. Europäisierung ohne europäische Förderung ist undenkbar, dazu leistet Erasmus+ einen Beitrag für einen solchen Europäisierungsprozess.

40% mehr Mittel wird Erasmus+ haben, für den Jugendbereich sind es fast 70% mehr. Bewährtes aus den Vorläuferprogrammen bleibt erhalten, neue Möglichkeiten sind hinzugekommen. Mit dem Thema Beschäftigungsfähigkeit wurden angesichts der Situation junger Menschen in Europa richtigerweise zusätzliche Akzente gesetzt. Aber auch in Erasmus+ JUGEND IN AKTION steht die Förderung europäischer Werte im Zentrum: Europäisches Bewusstsein und Engagement;Beteiligung an Europa; Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus; Vielfalt und Pluralismus; Solidarität und demokratisches Bewusstsein; ein offenes Europa. Aber ein erneuerter Europäisierungsprozess benötigt mehr Förderung und eine Öffnung nationaler Programm für europäische Aktivitäten.

6. Europäische Geschichte(n) wird gemacht

Die alten identitätsstiftenden Erzählungen über und von Europa entfalten nur noch bedingt ihre Wirksamkeit – auch wenn sie immer noch Gültigkeit besitzen. Sie sind zu weit entfernt von der Lebenswirklichkeit der Menschen und werden von denen erzählt, denen nicht mehr so viel Glauben geschenkt wird. Es benötigt stattdessen vielfältiger lebensweltlicher Erzählungen über Europa, die es längst gibt, wenn man z.B. den jungen Menschen zuhört, die sich dieses Europa längst angeeignet haben und es leben, die Europa erfahren, gelebt, gelernt und sich in Europa engagiert haben, die Freundschaften in ganz Europa pflegen, europäisch vernetzt und mehrsprachig sind, die im Ausland studieren oder arbeiten oder es gerne tun würden, die binationale Beziehungen oder Lebens-gemeinschaften haben. Viele dieser Erzählungen entstehen über die Teilnahme an Programmen wie Erasmus+. Diese Erzählungen junger Menschen werden jedoch wenig zur Kenntnis genommen.

Ein neuer Europäisierungsprozess braucht eine andere Form der Öffentlichkeit, mehr Orte und Gelegenheiten, mehr Bereitschaft zuzuhören, mehr Dialog über Europa. Modelle wie z.B. Youth Reporter
und EuroPeers sind bescheidene, aber wirkungsvolle zivilgesellschaftliche Ansätze. Und der Strukturierte Dialog ermöglicht jungen Menschen sich an europäischer Politikgestaltung zu beteiligen, ihre Geschichte
von Europa zu erzählen, ihre Erwartungen an Europa zum Ausdruck zu bringen und darüber einen Dialog mit politisch Verantwortlichen zu führen.

(Der Artikel wurde für das IJAB-Journal 01/2014 verfasst und dort veröffentlicht)

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