29.09.2015
Normalität einüben: Alltag in der Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen
Pedro Alves kam aus Portugal nach Deutschland, um hier seinen Europäischen Freiwilligendienst zu leisten. Er landete in der Kinder- und Jugendhilfe Elisabethheim Havetoft, Schleswig-Holstein, und blieb länger, als es sein Freiwilligendienst vorsah. Das gelingende Zusammenleben von Flüchtlingen und örtlicher Bevölkerung könnte ein Grund dafür gewesen sein.
"Es ist mein eigener kultureller Hintergrund, der mir die Arbeit mit den Geflüchteten hier im Elisabethheim in Havetoft erleichtert", so Pedro Alves, 29 aus Portugal. Von Mitte 2014 bis Mitte 2015 leistete der gelernte Architekt hier seinen Europäischen Freiwilligendienst. Dieser war im Juli beendet und nun hängt Pedro Alves noch ein Jahr dran – als Bundesfreiwilliger.
Pedro lebt und arbeitet in der Heilpädagogischen Kinder- und Jugendhilfe Elisabethheim zusammen mit acht Pädagoginnen und Pädagogen und bis zu fünfundzwanzig unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten. "Dadurch, dass ich mich selbst zu Beginn meiner Arbeit in Deutschland mit einer völlig neuen Umgebung und Kultur auseinandersetzen und zum Beispiel Sprachschwierigkeiten überwinden musste, kann ich mich in die Jugendlichen sehr gut hineinversetzen und sie besser unterstützen", so Pedro Alves.
Er spielt mit den Jugendlichen Fußball, fährt sie in die nächstgelegenen Orte zu Sprachkursen, Ämtern und Ärzten, hilft bei den Hausaufgaben und der Suche nach einem Ausbildungsplatz, organisiert gemeinsame Aktivitäten.
Persönliche Begegnungen befördern den Austausch mit den geflüchteten Jugendlichen
"Wir kennen die Probleme nicht, die sonst in ländlichen Gebieten auftreten, in denen Flüchtlinge aufgenommen werden", so Christian Oehler, Leiter der Heilpädagogischen Kinder- und Jugendhilfe Elisabethheim in Havetoft.
"Das mag zum einen daran liegen, dass viele der älteren hier lebenden Menschen selbst Fluchterfahrungen haben. Sie kamen zum Beispiel aus Pommern und können sich vielleicht in die Situation der Geflüchteten hineinversetzen. Zum anderen finde ich es wirklich wichtig, dass man die Menschen zusammen bringt. Wir betreiben eine aktive Öffentlichkeitsarbeit für unsere Einrichtung und die Arbeit, die wir machen. Wir laden zu unserem Jahresfest die örtliche Bevölkerung ein. Und wir geben den Menschen kleine Aufgaben, die sie für oder mit den Geflüchteten zusammen erledigen. So kommen sie in direkten Austausch miteinander. Denn Austausch funktioniert nicht in einer großen, anonymen Gruppe – die persönliche Begegnung einzelner ist wichtig."
Die Menschen aus der Umgebung kommen gern ins Elisabethheim, bringen Geschenke für die Geflüchteten mit oder laden sie zu sich nach Hause ein. Es scheint denkbar einfach: Junge Familien aus der Umgebung übernehmen Paten- oder Vormundschaften für die geflüchteten Jugendlichen oder einen Teil der Freizeitgestaltung, fahren zum Beispiel mit ihnen ans Meer. Senioren kommen zum Kaffeetrinken und Plaudern vorbei, andere stricken Schals oder Socken, organisieren gemeinsame Fußballspiele.
Der Fußballplatz ist Hauptbegegnungsort für die Flüchtlinge mit der örtlichen Bevölkerung. Hier gibt es keine Verständigungsschwierigkeiten, über den Sport finden die Menschen unmittelbar zueinander und örtliche Sportvereine werden in die Arbeit einbezogen. "Auch an anderen Sportarten finden die Jugendlichen Gefallen, zum Beispiel am Laufen", so Christian Oehler. "Einer der geflüchteten Jugendlichen hat letztes Jahr prompt die Meisterschaft in Schleswig-Holstein gewonnen."
Problemlos scheint auch das Zusammenleben der jugendlichen Geflüchteten untereinander. "Einige sind hier bereits seit zwei bis drei Jahren. Die unterstützen dann diejenigen, die neu ankommen, zum Beispiel bei der Verständigung, indem sie übersetzen", erzählt der Freiwillige Pedro Alves. Mit Vollendung des achtzehnten Lebensjahres ziehen die Jugendlichen schließlich aus der Einrichtung aus. "Mit einigen halte ich weiter Kontakt, manche kommen noch immer zum Fußballspielen", erzählt er.
Alltag versus Trauma-Therapie: Klare Arbeitsteilung erleichtert den Umgang mit den Schicksalen
Trotz dieser Erfolgsgeschichte gelebter Integration und Offenheit den geflüchteten Jugendlichen gegenüber steht Eines immer im Raum: welch krasses Schicksal diese Jugendlichen erlitten haben. Einige haben auf der Flucht nach Deutschland ihre Eltern verloren, haben gesehen, wie Freunde und Mitflüchtende den langen Weg nicht überlebten. "Die meisten sprechen nicht von allein darüber", so Oehler, "doch es gibt Jugendliche, die beispielsweise nach einem langen Tag mit intensivem Fußballtraining trotzdem nachts nicht schlafen können und die Gänge in der Einrichtung auf und ab laufen."
Wenn auch seine Situation kaum mit der der geflüchteten Jugendlichen vergleichbar ist, so weiß Pedro Alves doch, was es bedeutet, sein Heimatland zu verlassen, weil es einem keine Perspektiven mehr bietet. Der Freiwillige hatte in seiner Heimat Lissabon als Architekt gearbeitet, als die Wirtschaftskrise Europa traf und die Bedingungen auf dem portugiesischen Arbeitsmarkt sich verschärften. Es gab für junge Menschen kaum Perspektiven.
Der Europäische Freiwilligendienst schien Pedro Alves eine Möglichkeit, der prekären Situation in seinem Land zu entkommen, aber auch, sich beruflich neu zu orientieren. Als Zielland bevorzugte er Deutschland, da er bereits ein wenig Deutsch sprach und diese Kenntnisse ausbauen wollte. "Mir war dennoch klar, dass ich mich an ein komplett anderes Land gewöhnen müsste, eine neue Sprache lernen, mich den Arbeitsbedingungen anpassen", so Alves.
Doch könnte Pedro zurück nach Portugal gehen – im Gegensatz zu den Menschen, die aus einer Kriegsregion geflohen sind. Wie geht er also damit um, wenn er bei seiner Arbeit auf Menschen trifft, die Krieg und Terror entflohen sind, dabei nahestehende Menschen verloren haben und vielleicht nur selbst knapp dem Tod entgangen sind?
Die Antwort ist pragmatisch: "Pedro muss und soll sich mit diesen Schicksalen nicht beschäftigen", so Oehler. "Seine Aufgabe ist es lediglich, den Alltag mit den geflüchteten Jugendlichen zu verbringen, mit ihnen Normalität einzuüben. Das Thema Flucht soll er dabei eigentlich nicht ansprechen. Dafür haben wir Trauma-Therapeuten. Die kümmern sich um die psychische Begleitung der Geflüchteten."
Best Practice im Umgang mit Geflüchteten – wenn auch im Kleinen
Die Gelingensbedingungen für den Umgang mit und die Integration der geflüchteten Jugendlichen in Havetoft sind gut. Anders, als in anderen Gemeinden oder Städten leben hier maximal fünfundzwanzig Geflüchtete, mit ihnen acht Pädagoginnen und Pädagogen sowie der Freiwillige Pedro Alves. Die Anwohnenden in und um Havetoft haben teilweise selbst Fluchterfahrungen gemacht, dementsprechend starke Empathie.
Der Leiter der Heilpädagogischen Kinder- und Jugendhilfe im Elisabethheim und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterstützen den persönlichen Austausch zwischen Anwohnenden und Geflüchteten durch verschiedene Maßnahmen. Von Ausschreitungen der örtlichen Bevölkerung oder Überforderung des Betreuungspersonals keine Spur.
Doch auch, wenn die Bedingungen für gelungenen Austausch und Integration andernorts ungleich schwerer sein mögen, zeigt diese Praxis in Havetoft verschiedene Handlungsoptionen auf, für Träger aber auch für Anwohnende, wie man der Flüchtlingskrise in Europa und den Geflüchteten persönlich begegnen kann – im kleinen Rahmen, dafür nachhaltig.
(Babette Pohle im Auftrag von JUGEND für Europa)
(Bild: Elisabethheim Havetoft e.V.)
---
Mehr Informationen zur Arbeit des Elisabethheim Havetoft e.V. erhalten Sie hier...