06.05.2016

Humanität versus Egoismus

Gruppenfoto der Jugendbegegnung Humanity versus Egoism

Im Europahaus Aurich kommen über Ostern etwa 50 junge Menschen aus Deutschland, Finnland, Polen, Spanien und dem Vereinigten Königreich zusammen. Während der Jugendbegegnung "Humanity versus egoism – refugees in Europe" setzen sie sich mit der Flüchtlingslage in Europa auseinander. Es werden zehn intensive und beeindruckende Tage.

Das Thema, das seit längerem den öffentlichen Diskurs prägt, beschäftigt auch das europäische Netzwerk, dem das Europahaus Aurich angehört. Angesichts der vielen Flüchtlinge, die eine neue Bleibe suchen, steht Europa vor einer großen Herausforderung. Das ist eindeutig. Zweifelhaft ist, ob Europa die Herausforderung auch bewältigen kann.

Nationale Egoismen, vermeintliche oder objektive innenpolitische Notwendigkeiten und finanzielle Befürchtungen gewinnen einen immer größeren Einfluss, während gemeinsame europäische Ziele und Prinzipien ins Wanken geraten. Dieser Entwicklung will das Europahaus Aurich mit seinen europäischen Partner entgegenwirken.

Mit ihrer Jugendbegegnung wollen sie ein Zeichen setzen. Grundrechten mehr Gehör verschaffen, über die Situation der Flüchtlinge informieren und aufklären. Dabei sollen die Jugendlichen Fragen diskutieren wie: Wer ist überhaupt ein Flüchtling? Welche Vorteile und welche Bedrohungen sehen wir hinsichtlich der Migrationsbewegungen nach Europa? Sollten wir uns um dieses Thema kümmern und wenn ja, warum? Was können wir konkret tun? Sind wir zufrieden damit, was die EU tut? Was könnte noch getan werden?

"Diese Jugendbegegnung hier ist die beste Möglichkeit, die ganze Geschichte zu erfahren"

Alle teilnehmenden Jugendlichen haben sich schon vor der Jugendbegegnung auf das Thema vorbereitet. Sie haben zur Lage der Flüchtlinge in ihren einzelnen Ländern recherchiert. Wie ist es, ein Flüchtling in Spanien, Finnland oder Polen zu sein? Leute aus ihrer Umgebung haben sie dazu interviewt und andere Jugendliche gefragen, was sie über Menschen denken, die ihr Heimatland verlassen müssen. Können sie sich vorstellen, wie die Situation in den Herkunftsländern aussieht?

Für den 19-jährigen Jack aus England gibt es zwei Gründe, an dieser Jugendbegegnung teilzunehmen: "Zum einen ist es generell eine Erfahrung, die du nirgendwo anders machen kannst, doch zum anderen ist es auch das Thema, über das wir nie wirklich die ganze Wahrheit erfahren, vor allem nicht in England. Hier dominiert eine schlechte und beeinflusste Berichterstattung. Ich habe mehrere Zeitungen an einem Tag untersucht und der Großteil der Berichterstattung, die mit der Europäischen Union oder Flüchtlingen zu tun hatte, war negativ. Das begann oft schon in der Überschrift. Reine Angstmache. Diese Jugendbegegnung hier ist die beste Möglichkeit, die ganze Geschichte erfahren."

Xavier (16 Jahre) aus Spanien fühlt sich in seinem Land generell zu wenig informiert: "Als ich zu dieser Jugendbegegnung kam, habe ich nichts über dieses Thema gewusst. Ich wusste einfach nicht, was Flüchtlinge durchmachen, um nach Europa zu kommen. Das war alles überraschend neu für mich." Weder die Schule noch die Medien würden ausreichend über die Thematik informieren.

Christoph aus Polen nimmt zum ersten Mal an einer Jugendbegegnung teil. Er ergänzt, die Menschen in Polen hätten Angst vor dem Einfluss anderer Kulturen und Religion. "Sie haben Angst, ihre Kultur zu verlieren. Sie haben sie schon so oft verloren und wollen sie nicht noch einmal verlieren."

Auch in Finnland werde meistens negativ in den Medien berichtet, so die 14-jährige Erya. Vor allem die jungen Menschen hätten Vorurteile. Viele älteren Menschen jedoch verstünden die Situation der Flüchtlinge, da viele von ihnen selbst Migrationserfahrungen gemacht haben. Sie stünden Flüchtlingen sehr viel offener gegenüber.

Lena kommt aus der Nähe von Aurich und kennt die Situation in Deutschland: "Zu Beginn gab es eine große Welle der Solidarität. Mittlerweile hat sich das Blatt wieder etwas gewendet, das sieht man auch an den Wahlergebnissen der AFD. Es gibt diese zwei Seiten: Einige heißen die Flüchtlinge willkommen und engagieren sich für ihre Lebensumstände in Deutschland und andere sind wütend auf die Situation, wobei es scheint, dass die Gruppen der Wütenden wächst."

Sie fasst zusammen, worin sich die jungen Menschen auf der Begegnung nach vielen Diskussionen einig sind: "Auch wenn es negative Punkte geben kann, wie das Aufeinanderprallen der Kulturen oder Religionen, überwiegen die großartigen Dinge: Nämlich dass wir unterschiedliche Kulturen kennenlernen und lernen verschiedene Standpunkte und Meinungen auszuhalten. Auch der Arbeitsmarkt kann von dieser Bewegung profitieren.“

Ängste überwinden

Der wohl wichtigste und intensivste Moment für alle auf der Jugendbegegnung ist der Tag, der sich ausschließlich auf das Thema Flüchtlinge konzentriert. Innerhalb von verschiedenen Simulationsübungen erfahren die Jugendlichen, wie es ist, Kriegssituationen ausgesetzt zu sein.

"In einer Übung wurden uns die Augen verbunden und wir liefen über ein Feld, wo sich lauter Luftballons befanden. Wenn wir einen Luftballon mit einem Körperteil berührten, verloren wir dieses. Auf der einen Seite war es ein Spiel, aber auf der anderen zeigte es die Realität, vor der die Menschen fliehen", beschreibt Xavier die Erfahrung.

Jack erzählt von einer weiteren intensiven Erfahrung: "In einer anderen Übung haben wir Gruppen von Familien gebildet und uns in diesem Gruppen versammelt. Ganz plötzlich wurden uns dann die Augen verbunden und wir wurden wie wild durcheinandergewürfelt. Es war laut, wir hörten Alarm und Bombengeräusche. Nun sollten wir in diesem Chaos und Krach unsere Familienmitglieder wiederfinden. Das war eine krasse Erfahrung. Es war klar, dieser Raum ist total sicher, alle Leute hier kennst du, der Sound kommt vom Band. Aber ganz hinten in deinem Kopf wusstest du auch, dass all das gerade wirklich passiert. Dieses Chaos zu erleben war wirklich wachrüttelnd."

Auch Lena fand diese Erfahrung erstaunlich: "Du konntest dir wirklich vorstellen, wie es sein würde. Und wir haben diese Erfahrung nur für wenige Minuten machen müssen. Menschen in Kriegsgebieten erleben dies für Tage, gar Monate, und das ist sehr bedrückend."

An diesem Tag lernen die Teilnehmenden der Jugendbegegnung auch zwei junge Flüchtlinge aus Syrien persönlich kennen, die seit zwei Jahren in Aurich leben. Die beiden erzählen von ihrer Reise, ihrer Ankunft und dem Leben in Aurich. Lena ist vor dieser Jugendbegegnung noch nie persönlich mit Menschen in Kontakt gekommen, die in Deutschland Zuflucht suchen. Sie ist überrascht, dass die zwei Jugendlichen weiterhin bangen müssen, ausgewiesen zu werden, weil sie zuerst in Bulgarien registriert wurden.

Jack dagegen ist überrascht, wie glücklich die beiden sind und wie normal ihr Leben nach einer solchen Erfahrungen ist. "Sie können immer noch lächeln. Ich kann nur sagen, mein Held ist dieser Junge von 14 Jahren, der nach nur zwei Jahren die bestmöglichen Noten in der Schule bekommt. Er will lernen und will darin so gut sein wie nur möglich. Es war wunderbar, diese zwei Menschen als Helden kennenzulernen."

Auch für Christoph ist dieser Tag der erfahrungsreichste: "Ich war kein Rassist, bevor ich hier her kam, aber hatte doch auch Vorurteile. Irgendwie hatte ich diese Bilder von Terroristen im Kopf. Während dieser Simulationsübung habe ich begriffen, sie sind einfach nur Menschen wie du und ich. Hier auf der Jugendbegegnung habe ich meine Angst ihnen gegenüber überwunden. Ich habe angefangen, anderen Menschen zuzuhören und Argumente anzunehmen. Das ist Humanität. Wir stehen in der Pflicht, zu helfen. Der Moment, in dem ich das verstanden hatte, war der wichtigste Moment hier für mich."

Mittlerweile geht er fest davon aus, diese Krise könne Europa wirklich vereinen, wenn gemeinsame Lösungen gefunden werden könnten. "Es kann der Anfang einer wirklichen Europäischen Union sein. Natürlich kann niemand gezwungen werden, für gemeinsame Lösungen müssen wir reden und Argumente finden."

Jack ist sich sicher, dass jeder einzelne helfen kann: "Wir als Gruppe hier sind stark geworden durch das, was wir gelernt haben und durch den Austausch unserer Meinungen. Wir haben soviel gelernt bezüglich der Flüchtlingslage, und zwar nicht nur über unser eigenes Land, sondern auch über die Ideale der anderen. Wir haben Positives und Negatives abgewogen und so viele von uns sind zu dem Schluss gekommen, dass wir helfen müssen. Flüchtlinge sind Menschen, die nicht nur unsere Hilfe brauchen, sondern sie verdienen. Wenn wir zurückkehren in unser Land, sollten wir ganz einfach nur die Wahrheit erzählen und dagegen kämpfen, was Leute lesen und was sie hören. Unsere Unterstützung sollte pro-aktiv sein."

Lena ist nun überzeugt, dass die wirkliche Begegnung mit geflüchteten Menschen die Perspektive verändert: "Wir wissen gar nicht wirklich, wer sie sind. Es sind Leute wie wir und ihre Situation könnte auch unsere sein."

"Das Potenzial der jungen Menschen erkennen, sie mehr einbeziehen und ihnen zuhören"

Diese Jugendbegegnung hat dazu beigetragen, Egoismen sowohl auf gesellschaftlicher wie auch auf individueller Ebene entgegenwirken. Sie hat jungen Menschen gezeigt, dass Fremde(s) nicht zwangsläufig als unbequem oder gar als Bedrohung erlebt werden muss, sondern auch bereichernd und herausfordernd erlebt werden kann.

Der 58-jährige Flan aus Irland arbeitet seit Jahren mit Flüchtlingen und innerhalb der Menschrechtsbildung. Er ist Trainer und einer der Initiatoren der Jugendbegegnung und erinnert an die ausschlaggebende Rolle der Generation der Zukunft: "Wir als Erwachsene sollten das Potenzial der jungen Menschen erkennen, sie mehr einbeziehen und ihnen zuhören. Sie sind die Zukunft der Europäischen Union und sie sind gewillt mit ihrer Energie und ihrer positiven Einstellung zu helfen."

Das Europahaus Aurich bereitet sich übrigens schon darauf vor, in Kürze einigen Flüchtlingen ein neues Zuhause zu bieten.

(Text und Bild: Sabrina Apitz im Auftrag von JUGEND für Europa)

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Mehr zur Arbeit des Europahauses Aurich erfahren Sie hier...

Die Jugendbegegnung wurde gefördert über die Leitaktion 1 des EU-Programms Erasmus+ JUGEND IN AKTION. Informationen zu den Fördermöglichkeiten finden Sie unter www.jugend-in-aktion.de.

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