04.07.2016
"Wir brauchen mehr überzeugte Europäer – gerade jetzt": 20-jähriges Jubiläum des EFD kommt zur rechten Zeit
Brexit, Renationalisierungstendenzen und Fremdenfeindlichkeit prägen im Moment die Berichterstattung über sowie das Klima in Europa. In Potsdam diskutierten auf der Veranstaltung "JUGEND bewegt Europa" Jugendliche, junge Freiwillige und Politiker, welchen Beitrag der Europäische Freiwilligendienst in Krisenzeiten wie diesen leistet. Und wo er noch verbessert werden kann.
"Der Ruf von Europa ist im Moment nicht besonders gut", steigt Christian Matthee vom Rundfunk Berlin-Brandenburg in seine Moderation ein und hat damit vor allem das Britische Referendum und den Brexit im Sinne. Die Veranstaltungsreihe „JUGEND bewegt Europa“, die bis Ende 2016 noch in Weimar, Magdeburg, Würzburg und Bremen stattfinden soll, würdigt "20 Jahre Europäischen Freiwilligendienst". Dennoch, das Thema Europa spaltet aktuell die Bevölkerung, auch im Land Brandenburg.
Gut ist es daher, dass diese Veranstaltung um die sechzig überzeugte Europäerinnen und Europäer vereint – darunter Vertreter von Jugendorganisationen und regionalen Verbänden aus dem Land Brandenburg, viele Freiwillige aus dem EFD sowie aus nationalen Freiwilligendiensten und Entscheidungsträger aus der Politik. Sie alle wollen hier in Potsdam über die Zukunft des Europäischen Freiwilligendienstes ins Gespräch kommen.
Denn, so stellt schon der Text des Einladungsflyers programmatisch die Frage: "Lohnt sich das Engagement junger Menschen für ein friedliches, soziales und solidarisches Europa überhaupt, wenn europäische Werte wie Solidarität oft keine Rolle mehr zu spielen scheinen?"
Engagement für Europa ist unabdingbar – für die politische und die individuelle Weiterentwicklung
Die hier Anwesenden sind sich einig: Nicht nur, dass sich das Engagement für Europa absolut lohnt, es ist überlebensnotwendig.
Beat Seeman, ehemaliger EFD-Freiwilliger in Minsk (Belarus) und nunmehr als EuroPeer unterwegs, trifft bei seinen Einsätzen an Schulen und in gemeinnützigen Organisationen häufig auf junge Menschen, die sich für Europa nicht besonders interessieren: "Sie haben sich bereits an den Zustand in Europa gewöhnt und gehen davon aus, dass der Frieden, den wir hier haben, die Solidarität und die Freiheit, auch erhalten bleiben. Dabei ist Europa, wie wir es kennen, in Gefahr, wir checken das bloß nicht." Darum schließt er: "Wir brauchen mehr überzeugte Europäer – gerade jetzt".
Dem stimmt auch Susanne Melior (SPD) zu, Abgeordnete des Europäischen Parlaments. Sie ist 1989 laut eigener Aussage in die Politik gegangen, "um nicht nur im gemeinsamen Deutschland, sondern im gemeinsamen Europa anzukommen." Für sie seien die drei wichtigsten Werte, die wir hier in Europa haben, Frieden, Freiheit und Solidarität. "Letztere ist uns aktuell verlorengegangen, sie wiederzugewinnen, dafür müssen wir uns einsetzen", so Melior.
Neben der politischen Bedeutung bringt der Europäische Freiwilligendienst natürlich für die Freiwilligen individuelle Gewinne. Sie arbeiten zwischen zwei Monaten und einem Jahr in einer gemeinnützigen Einrichtung in einem Programm- oder Partnerland ehrenamtlich mit und lernen das Land, seine Sprache und Kultur auf authentische Weise kennen.
Nicht nur, dass die Erfahrungen, die die Freiwilligen hier sammeln, sie beruflich weiterbringen können; sie erleben, was Europa bedeutet: Reisefreiheit, das friedliche Miteinander der Länder, die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Mitgestaltung. "Ich habe gelernt, besser zuzuhören und andere Leute in ihrer Situation zu verstehen", resümiert Beat Seemann seinen ganz persönlichen Zugewinn durch den Dienst.
20 Jahre EFD – was läuft gut, was geht noch besser?
Die erste Veranstaltung in der Reihe "JUGEND bewegt Europa" anlässlich des 20-jährigen Jubiläums bietet Raum, innezuhalten und zurückzublicken. Seit 1996 ist der Europäische Freiwilligendienst für die EU-Kommission ein gesetztes Format. Was zunächst mit einer kurzen Pilotphase startete, ist heute ein etablierter europaweiter Freiwilligendienst mit interkulturellem Lernschwerpunkt. In Deutschland steht er neben anderen internationalen Freiwilligendiensten wie "kulturweit" oder "weltwärts" und den nationalen Diensten wie das Freiwillige Soziale oder Ökologische Jahr. Der EFD ist Teil des EU-Programms Erasmus+ für Bildung, Jugend und Sport.
Ganz eigen im Vergleich zu den anderen Freiwilligendiensten ist dem Europäischen Freiwilligendienst der Gedanke der Mitgestaltung einer europäischen Zivilgesellschaft und der friedensstiftenden Aufgabe, die er für die Länder Europas hat. "Wenn man es so nimmt, ist der EFD eine wichtige Präventionsmaßnahme gegen Krieg in Europa", so Friedrich Kruspe vom Jugendbildungszentrum Blossin.
Um die europäische Orientierung und das spezifische Lernen junger Freiwilliger zu unterstützen, wird der EFD von einem pädagogischen Programm begleitet. Dieses ermöglicht auch die Reflexion über die politische Aufgabe.
Doch es gibt auch Kritik. Der Zugang junger Menschen zum Europäischen Freiwilligendienst sei, auch nach 20 Jahren Laufzeit, noch relativ elitär. Dies wird von mehreren Anwesenden geäußert. Und nicht nur, dass er unter den Jugendlichen noch immer kaum bekannt sei, wie Beat Seemann und Helena Häußler (beide EuroPeers) aus ihren Erfahrungen berichten – die von Deutschland aus entsendeten jungen Menschen seien mehrheitlich Abiturient(inn)en kurz nach der Schule. Beat Seemann und Helena Häußler wünschen sich bei der Bewerbung des Europäischen Freiwilligendienstes eine gezielte Ansprache von Real- und Oberschülern und -schülerinnen.
Daneben wurde von Trägerorganisationen vor allem die formale Antragstellung bemängelt: Diese sei extrem bürokratisch – und der Aufwand sei mit der Umstellung auf das neue Programm Erasmus+ JUGEND IN AKTION gestiegen. Die Bürokratie verhindere, dass die vom Programm gewünschte Inklusion von Menschen mit Behinderungen und geringeren Chancen tatsächlich und flächendeckend stattfinden kann. Außerdem sei der Europäische Freiwilligendienst eher unterfinanziert. Die Mittel reichten zwar für die Unterbringung und Verpflegung der Freiwilligen, für die begleitende pädagogische Arbeit aber bei Weitem nicht, so der Konsens.
Was kann der EFD in Zukunft leisten?
Dabei wäre eine flächendeckende Teilnahme aller jungen Menschen an einem Europäischen Freiwilligendienst eine der wichtigsten Maßnahmen gegen aktuelle politische Strömungen von Renationalisierung und Rechtspopulismus – dies ist aus den Gesprächen der Teilnehmenden in Potsdam herauszuhören. Bei der Auseinandersetzung mit europäischen Werten und der Möglichkeit einer Mitgestaltung europäischer Zivilgesellschaft setzt der EFD bereits an, ist man sich einig. Nur, dass er bei Weitem noch nicht für alle jungen Menschen in Europa zugänglich ist.
Dieser Dienst trägt uneingeschränkt zur Persönlichkeitsbildung junger Europäer bei. In ihm liegt aber auch eine politische Gestaltungskraft, die auf eine europäische Pektive hindeutet. Darin ist der Europäische Freiwilligendienst, das bestätigt auch die begleitende Wirkungsforschung, ein Erfolgsmodell – wenngleich formale Anpassungen und Zugänge nach 20 Jahren Dauer erforderlich sind, die ihn noch erfolgreicher und wirkmächtiger machen.
Anregungen dafür lieferte die Veranstaltung "JUGEND bewegt Europa“ in Potsdam hinreichend. Die Diskussionen an den kommenden Veranstaltungsorten werden diese ergänzen. Das 20-jährige Jubiläum des Europäischen Freiwilligendienstes sollte Anlass sein, die großen Chancen auszubauen und die Defizite zu bearbeiten. Gerade jetzt!
(Text: Babette Pohle im Auftrag von JUGEND für Europa / Foto: Babette Pohle, Leipzig)
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"JUGEND bewegt Europa" geht nach Thüringen. Die nächste Veranstaltung findet am 25.08.2016 in Weimar statt. Mehr Informationen sowie die Online-Anmeldung finden Sie hier...
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