06.09.2016
"Der EFD war der erste Auslandsfreiwilligendienst für alle jungen Menschen in Deutschland“
Karin Schulz und Ulli Beckers waren im August 1996 die ersten Mitarbeiter bei JUGEND für Europa für den Europäischen Freiwilligendienstes (EFD). Als "Veteranen" des EFD blicken sie zurück auf 20 Jahre europabildende Mobilität.
Karin Schulz war selbst während des Studiums ein halbes Jahr als FSJ-Freiwillige unterwegs, Ulli Beckers verhandelte bereits auf seiner vorhergehenden Arbeitsstelle mit der EU-Kommission um die Einführung eines "European Voluntary Service".
Vorreiter Europäischer Freiwilligendienst
Als der EFD dann vor 20 Jahren startete, war er eine echte Neuheit. Er war der erste Auslandsfreiwilligendienst für alle jungen Menschen in Deutschland. "Neben dem 'Freiwilligen Sozialen Jahr' und dem 'Anderen Dienst im Ausland' als Variante des Ersatzdienstes für die Wehrpflicht gab es bis dahin nur Auslandsdienste, für die man selbst Geld bezahlen musste“, erzählt Karin Schulz.
Und Ulli Beckers ergänzt: "Mit dem EFD konnten auch Freiwillige aus anderen europäischen Ländern nach Deutschland kommen und ihren Dienst leisten. Darin war der EFD Vorreiter. Erst am Beispiel des Europäischen Freiwilligendienstes sind andere Freiwilligendienste nachgezogen.“ Er erinnert sich auch, dass die Einführung des EFD nicht reibungslos verlief. Viele deutsche Organisationen fühlten sich als "Mütter und Väter des EFD" und waren enttäuscht, als sie kein für sie maßgeschneidertes Förderprogramm bekamen.
Europäisch denken zu lernen, war und ist der Kern des Dienstes
Der Umdenkprozess, der damit einsetzen musste, war symptomatisch. Darin sind sich Ulli Beckers und Karin Schulz einig. "Der EFD ist ein Freiwilligendienst, der sich insbesondere für Europa stark macht. Denn sein Thema ist 'Europa'“, bringt Karin Schulz es auf den Punkt.
Aber um die Attraktivität von Europa steht es ja gerade schlecht, oder? Für Ulli Beckers ist dies erst recht ein Grund, sich freiwillig zu engagieren: "Ich muss ja nur die Tagesschau einschalten, dann kann ich an Europa verzweifeln. Aber ich glaube, dass wir mit dem Europäischen Freiwilligendienst ein Angebot offerieren, das es zulässt, diese Zweifel zu thematisieren und die Widersprüche Europas offenzulegen, sie auf einer für einzelne Menschen erreichbaren Basis zu bearbeiten. Man engagiert sich für eine Sache, die am Ende des Tages dazu beiträgt, für die beteiligten Menschen so etwas wie einen Mosaikstein für die Wahrnehmung Europas zu legen."
Er betont auch die politische Dimension, die der Dienst seiner Meinung nach haben sollte. "Wir müssen mit dem EFD genau an den europäischen Themen und auch den Problemthemen ansetzen."
Ist der Europäische Freiwilligendienst offen für alle?
Ist denn dann das Interesse an Europa die Zugangsvoraussetzung für den EFD? "Sagen wir besser 'Neugier'“, verbessert Karin Schulz . "Aber dies ist auch das einzige!" Denn der Europäische Freiwilligendienst ist offen für alle. "Ich brauche keinen speziellen Schulabschluss, keine speziellen Sprachkenntnisse und mein sozialer Hintergrund spielt keine Rolle. Für die Jugendlichen entstehen faktisch keine Kosten. Ich muss lediglich einen legalen Aufenthaltsstatus in Deutschland haben und zwischen 17 und 30 Jahren alt sein.“
Und dennoch nehmen bestimmte Gruppen eher teil als andere. "Lange waren es vor allem junge Frauen, die sich nach dem Abitur für ein Jahr engagierten", sagt Karin Schulz. Seit der Abschaffung der Wehrpflicht machen aber auch mehr junge Männer mit. "Wer tatsächlich fehlt, sind die Jugendlichen, die sofort nach der Schule eine Berufsausbildung machen oder diejenigen mit schlechten Abschlüssen."
Ulli Beckers übt Selbstkritik. "Ich denke, dass es uns bislang noch nicht gelungen ist, für diese jungen Menschen ausreichend adäquate Angebote zu entwickeln und bereitzuhalten. Wir müssen uns immer wieder die Frage stellen, in welchen Situationen es ein sinnvolles Angebot für Jugendliche darstellt, sich in einem grenzüberschreitenden internationalen Zusammenhang zu engagieren", beschreibt er das Problem.
Immerhin sei Europa ein ambivalentes Thema in Bezug auf diese Jugendlichen: "Die Liberalisierungstendenzen, die ja viele Jugendliche aus dem normalen Arbeitsmarkt rausgedrängt haben oder es verhindern, dass sie in den Arbeitsmarkt hereinkommen, sind nicht zuletzt von der Europäischen Union mitbefördert worden", gibt er zu Bedenken. Gleichzeitig sei die EU "ein riesiger Reparaturbetrieb, der mit viel Geld versucht, fragwürdige wirtschaftspolitische Entscheidungen zu korrigieren und diejenigen, die durch die Maschen gefallen sind, wieder in die Gesamtgesellschaft zu integrieren."
Notwendig seien "maßgeschneiderte Projekte, die auch eine der Zielgruppe angemessenen Form von kritischer Reflexion dieser Situation beinhalten". Den EFD sieht er auf dieser Seite des Zauns, eingebettet in das Programm Erasmus+ und in die Inklusionsstrategie der Europäischen Kommission. "Wir brauchen eine Sensibilisierung für die Frage, wie Jugendliche mit geringeren Chancen die Möglichkeit erhalten, an Freiwilligendiensten und insbesondere am EFD teilzunehmen. Angesprochen sind die Jugendarbeit, die Jugendsozialarbeit und die Fachorganisationen der Freiwilligenarbeit. Mit all denen sind wir in einem permanenten Dialog, um adäquate Projekte zu gestalten."
Biografische Effekte
Was haben denn die Jugendlichen davon, wenn sie mitmachen? "Beim EFD lernen Jugendliche sich selbst besser kennen. Sie lernen etwas über ihre eigene Identität und sie lernen selbstständiger zu werden“, zählt Karin Schulz auf. Um dann fortzuführen: "Sie lernen Verantwortung zu übernehmen, für sich, für andere. Sie lernen Anderssein zu akzeptieren und erlernen sogenannte Schlüsselkompetenzen, die auch Berufsleben so sehr gefragt sind.“ Und sie lernten etwas über Europa, das werde nicht zuletzt in den Begleitseminaren reflektiert. All das helfe für den späteren Lebensweg, auch bei der Suche nach Ausbildung und Arbeit.
Doch gerade beim letzten Punkt haben beide auch "innere Reserven" gegenüber dieser Nützlichkeits-Argumentation. Ulli Beckers sagt: "Bei der Verbesserung der Chancen am Arbeitsmarkt, da bekomme ich Bauchschmerzen". Er hat ein Problem damit, die Jugendprogramme und das Freiwilligenkonzept auf die Förderung von Beschäftigungsfähigkeit auszurichten. Für ihn stehen Persönlichkeitsentwicklung und das politische Lernen im Mittelpunkt.
Und was hat Europa davon?
Ohne die Begegnungen im Alltag, in der Arbeit an konkreten Vorhaben und Projekten Europa werde Europa keine Stabilität zurückgewinnen, meint Beckers. "Nur das wird Europa weiterentwickeln, aber nicht die `Ich-bin-für-14-Tage-in-Spanien-und-komme-braungebrannt-wieder-nach-Hause-Haltung´, nicht die Tourismusströme.“
Karin Schulz stimmt zu: "Europa bekommt durch den EFD eine Menge überzeugter europäischer Bürger und Bürgerinnen. Denn alle, die den EFD gemacht haben, entwickeln ein besonderes Gefühl zu Europa, viele sind 'angefixt'. Sie lernen zu unterscheiden. Denn: Europa ist nicht nur ein Europa, das auf Gipfeltreffen geschmiedet wird, sondern es ist ein Europa der Menschen. Edith Cresson (ehem. Mitglied der EU-Kommission, Anm. d. Red.) sprach 1996 von einem europäischen Haus, welches Stein für Stein von Freiwilligen aufgebaut wird. Und ich glaube, das funktioniert auch.“
Ulli Beckers ist bei dem Thema nicht zu bremsen: "Europa, mal abgesehen von den Institutionen und des geografischen Raums, hat wirklich etwas davon, wenn Jugendliche unterschiedlicher Länder gemeinsam in Projekten arbeiten, Themen aufgreifen, die virulent und wichtig sind und sich darüber auseinandersetzen, mit allen Unterschieden und Unterschiedlichkeiten und Meinungsverschiedenheiten, die es ja auch gibt.“
Und Karin Schulz findet: "Ich kann natürlich nicht von einem sechs- bis zwölfmonatigem Freiwilligendienst erwarten, dass sich die Welt verändert. Aber jede und jeder Freiwillige verändert sich, verändert den Platz, an dem er oder sie Dienst macht, ändert wieder die Umgebung, in die er oder sie zurückgeht.“
Ein besonderes Beispiel sind die "EuroPeers": Jugendliche, die den EFD abgeleistet haben und sich danach weiter für Europa engagieren. Ob beim Frühstück im Bonner Hofgarten, in DB-Regionalzügen oder im Klassenraum, die EuroPeers werben bei Gleichaltrigen öffentlichkeitswirksam für den Europäischen Zusammenhalt und den EFD.
Wie geht es weiter?
Beide "Veteranen" sind nach wie vor vom Europäischen Freiwilligendienst überzeugt. Und trotz aller Widrigkeiten boomt der EFD nach wie vor, die Nachfrage bei Jugendlichen ist riesig. Steigerungsmöglichkeiten gibt es aber auch. "Wir sind ja jetzt eingebettet in das größere Programm Erasmus+“, sagt Karin Schulz. "Da wird es in den nächsten Jahren noch einmal mehr Mittel geben, auch für den EFD.“
Ulli Beckers findet, dass das neue Programm auch neue Herausforderungen gebracht hat. Gleichzeitig mit dem konjunkturellen Niedergang der Europabegeisterung bedürfe es nunmehr einer strategischeren Herangehensweise, man brauche wieder ein klareres Profil des Freiwilligendienstes und stärkere systemische Wirkungen.
"Freiwilligendienste sollten deshalb auch prioritär in Bereichen stattfinden, die gesellschaftspolitische Brennpunkte sind, die sich mit den aktuellen Fragen wie zum Beispiel Flüchtlinge, Menschenrechtsfragen, etc. beschäftigen." Die Philosophie, meint Karin Schulz, sei immer noch dieselbe. Es käme auf die "europäische Dimension" an, auf europäische Bürgerschaft und interkulturelles Lernen. Es habe sich vieles verändert, "aber im inneren Kern ist der EFD immer noch so, wie er vor 20 Jahren war."
Ulli Beckers bringt es auf den Schlusspunkt: "Sowohl die Nationalen Agenturen wie auch die Europäische Kommission haben begriffen, was für ein Juwel wir mit dem EFD haben. Wir müssen alle Möglichkeiten ausschöpfen, um ihn weiterzuentwickeln und ihn auf die Höhe der Zeit zu bringen."
(Das Interview führte Dr. Helle Becker im Auftrag von JUGEND für Europa)
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Alle Informationen zum EFD finden Sie auf unseren Internetseiten www.jugend-in-aktion.de bzw. www.go4europe.de.