23.10.2016
“Meine Werte politisch umsetzen”
Mit diesem Workshop-Titel lud Trainer Ian Maloy EFD-Freiwillige bei comeback 2016 ein, über ihre eigenen sowie typisch deutsche Werte nachzudenken. Schließlich musste die Gruppe jedoch einsehen, dass selbst in kleinem Kreis eine Einigung auf einheitliche Begriffedefinitionen nahezu unmöglich ist.
Simon hat seinen Europäischen Freiwilligendienst in einem Kulturzentrum in Kiev, der Ukraine absolviert. Während seines Aufenthaltes hat er sich intensiv mit der politischen Lage in der Ukraine beschäftigt, allen voran mit Frauenrechten und der ukrainischen Politik gegenüber nicht heteronormativen Geschlechteridentitäten.
Er hat am 8. März an einer alternativen Frauentagsdemo und am PRIDE-Walk in Kiev teilgenommen, der die Diskriminierung von alternativen Geschlechteridentitäten aufzeigen will. “In Deutschland hätte ich mich eher nicht für Frauenrechte engagiert”, erzählt der EFD-Rückkehrer. “In der Ukraine schien es mir aber wichtig, auf die starke Diskriminierung von Frauen aufmerksam zu machen. Dort kann man auch mit kleinen Mitteln deutliche Akzente setzen.”
Heißt das, in Deutschland muss man sich nicht für Frauenrechte einsetzen, weil Frauen hier schon eine stärkere Gelichberechtigung erfahren als in anderen Ländern? Nein, heißt es ganz und gar nicht. Auch in Deutschland gibt es in punkto Frauenrechte bekanntermaßen noch sehr viele Baustellen. Simons Beispiel zeigt lediglich, dass es Unterschiede in der Wahrnehmung von Grundrechten und Werten in den unterschiedlichen Ländern Europas gibt, und damit einhergehend, mit der Art und Weise, sich für diese einzusetzen.
“Begriffe in der Wertedebatte sind schon unglaublich abgenutzt”
Sehen wir uns die aktuelle politische Debatte um europäische Werte und deren Verteidigung an, so fällt auf, dass mit stark aufgeladenen, gleichwohl inhaltsleeren Begriffen argumentiert wird. Das findet auch Emilia, Teilnehmende des Workshops: “Die Begriffe “Frieden”, Freiheit” und “Solidarität” klingen so abgenutzt, dass man sich überhaupt nichts mehr darunter vorstellen kann.” Simon ergänzt: “Diese Werte sollte man erst einmal definieren, bevor man sie verteidigt.”
Allein in der kleinen Gruppe der Workshop-Teilnehmenden kam man nur nach langer Diskussion zu einer Einigung darüber, was denn drei typisch deutsche Werte seien, Werte, die in der Gesellschaft in Deutschland als allgemein gültig und wichtig anerkannt würden. Diese wären nach Meinung der Teilnehmenden “Leistung”, “Ordnung” und “Freiheit”.
Für manchen Workshop-Teilnehmenden waren diese Begriffe positiv, für andere negativ konnotiert, und in genau dieser speziellen Kombination sorgten sie für einen ganz anderen gesellschaftlichen “Spirit” als beispielsweise die Kombination von “Leistung” mit den Werten “Empathie” und “Spiritualität”.
Für den einen positiv, für den anderen negativ — wie nehmen wir bestimmte Werte wahr?
Emilia und Annkathrin debattieren angeregt über den Wert des Reflexionsvermögens. Der EFD in Straßbourg hat Emilia dabei geholfen, von ihrer Überreflektiertheit Abschied zu nehmen, die, in ihren Worten, “schon ganz schön anstrengend war.” Vor dem EFD habe sie über alles und aus Prinzip zunächst reflektiert, bevor sie eine Entscheidung treffen konnte. Das habe in vielen Fällen eine gewisse Spontaneität verhindert. Es sei auch für andere nicht angenehm gewesen, dass sie allem gegenüber zunächst eine kritische Haltung eingenommen habe.
Annkathrin hingegen hatte während ihres EFD-Einsatzes in einem Frauenhaus in Belfast einen Zuwachs an Reflexionsfähigkeit zu verzeichnen. “Vor meinem Dienst dachte ich immer, ich hätte voll die Ahnung vom Leben, als ich dann im Projekt gearbeitet habe und tagtäglich mit den verschiedenen Biografien konfrontiert war, wurde mir klar, dass das nicht so ist.”
Ist Reflexionsvermögen nun gut oder schlecht? Ist das ein Wert, der in unserer Gesellschaft eine tragende Rolle haben sollte? Ist das ein Wert, für den man sich politisch, gesellschaftlich stark machen sollte? Ist Reflexionsvermögen überhaupt ein gesellschaftlicher Wert? Oder vielmehr eine Fähigkeit?
Pauschalität ist hier fehl am Platz
Der Workshop von Ian Maloy zeigt deutlich, dass mit der Debatte um Werte eigentlich mehr Fragen aufkommen als Antworten geliefert werden können. Offensichtlich ist aber, dass man wegkommen muss von der Praxis, die scheinbar allgemein verständlichen Wertebegriffe wie “Leistung”, “Freiheit” oder “Solidarität” unreflektiert zu verwenden um damit (partei-)politische Entscheidungen und Maßnahmen zu rechtfertigen. Denn jeder versteht etwas anderes darunter.
Für Simon war der Europäische Freiwilligendienst genau der Ort um über diese Debatte nachzudenken. “Ich habe ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass andere Länder unter den Begriffen ganz andere Dinge verstehen, dass sie, traditionell und gesellschaftlich bedingt, ganz andere Auffassungen dazu haben können und es vor diesem Hintergrund eigentlich nicht möglich ist, von gesamteuropäischen Werten pauschal zu sprechen”, so Simon.
Schlussendlich, so ein Fazit, mit dem sich die Teilnehmenden des Workshops arrangieren können, sollte der erste Schritt hin zu einem werteorientierten Leben sein, die eigenen, für sich selbst definierten Werte im persönlichen Umfeld zu vertreten, zu leben. “Dies setzt Zeichen nach außen und kann andere Menschen positiv beeinflussen”, ist Simon überzeugt.
Gregor Nageler ergänzt: “Man sollte sich auf keinen Fall einer Bequemlichkeit hingeben und sich dem gesellschaftlichen Konsens unterordnen, sondern das eigene Urteilsvermögen ausbilden und stets auf’s Neue reflektieren.”
Der Europäische Freiwilligendienst ist dafür ein gutes Mittel: Über die Freiwilligenarbeit in einem andern Land lernt man dortige Wertevorstellungen besser und authentischer kennen, als es durch die mediale Vermittlung möglich ist. Dies trägt zu einem umfassenderen Urteilsvermögen und einem differenzierteren, empathischeren Blick auf die Wertedebatte in anderen Ländern bei - da sind sich die Teilnehmenden aus eigener Erfahrung einig.
(Text: Babette Pohle im Auftrag von JUGEND für Europa)
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