24.11.2016
„Es braucht mehr Dekoder“
Es ist die erste von drei Runden des Labors „Ignite the spark. How to give young people with fewer opportunities a voice?” Teilnehmerin Ljiljana Ban aus Kroatien arbeitet in der Organisation Suncroket OLJIN mit Kindern und Jugendlichen mit geringen Chancen. Viele von ihnen leben auf der Straße oder haben keine Stimme – Ljiljana versucht ihnen eine zu geben.
JfE: Ljiljana, der Name eurer Organisation Suncrocet Oljin heißt soviel wie „Sonnenblume – für Liebe und Gewaltlosigkeit“. Was macht ihr genau?
Ljiljana Ban: Die Organisation gibt es seit über 15 Jahren und wir arbeiten hauptsächlich in Zagreb und den Dörfern, die unter staatlicher Fürsorge stehen, weil sie immer noch mit den Auswirkungen des Krieges zu tun haben. Die meisten sind sehr arm, ohne Chancen. Wir haben mehrere Projekte und arbeiten mit unterschiedlichen Altersgruppen und Hintergründen. Für die Grundschüler machen wir Projekte, die ihre Rechte thematisieren, aber auf einem kreativen Weg und durch Bewegung. Das ist momentan ein großes Thema in Kroatien, weil die Kinder immer inaktiver werden. Mit Jugendlichen sprechen wir über Suchtprävention und einen gesunden Lebensstil. Wir versuchen ihnen zu zeigen, dass ein gesunder Lebensstil nicht nur meint, sich gesund zu ernähren und Sport zu treiben, sondern auch wie ich mit anderen umgehe und zu einer aktiven Gesellschaft beitragen kann. Wir arbeiten auch mit Kindern mit sehr hohem IQ, die sehr unsicher sind. Viele der Älteren haben die Schule abgebrochen, nehmen Drogen. Diejenigen, die gefährdet sind versuchen wir in Gruppensitzungen aufzufangen und zurück in die Schule oder an die Arbeit zu bringen.
JfE: Heißt das, dass ein Großteil der Jugend – was Partizipation angeht – keine Stimme hat?
Ja, man kann schon sagen, dass der Terminus „geringe Chancen“ auf einen großen Teil der kroatischen Jugend zutrifft und nicht nur auf spezielle Gruppen. Das liegt vor allem daran, dass die Jugendarbeitslosigkeit extrem hoch ist und es an Chancen und Möglichkeiten mangelt. Das sieht natürlich noch düsterer aus, wenn wir über Jugendliche mit Problemhintergründen sprechen. Ich gehe an Schulen und jede Klasse hat andere Probleme – Partizipation wird da fast nie thematisiert. Ein Uniabschluss ist zum Standard geworden und trotzdem können wir keine Arbeit finden. Ich habe Soziale Arbeit studiert und drei Jahre auf meinen ersten Job gewartet – in der Zwischenzeit habe ich ehrenamtlich gearbeitet.
JfE: Du bist aber auch dabei FICE Croatia aufzubauen. Ein Netzwerk, das sich dafür einsetzt, dass die Betreuung von Kindern außerhalb von Familien, Kindern, die gefährdet sind und spezielle Bedürfnisse haben, besser wird.
Ja, ich bin auch für FICE hier, weil wir in einem Prozess sind, alle Jugendlichen mit weniger Chancen einzubeziehen. Etwa 4000 Kinder in Kroatien sind in Heimerziehung und Jugendhilfemaßnahmen. Ich möchte alle besser vernetzen, die an diesem Thema arbeiten. Dass Informationen, die Experten gesammelt haben, auch den Jugendarbeitern zur Verfügung stehen und sie diese viel schneller anwenden können. Ich konzentriere mich vor allem auf die Kinder, die die Heime mit 18 verlassen müssen und de facto auf der Straße landen. Auf einer internationalen Konferenz von FICE mit Jugendlichen aus Heimen, haben wir zusammen eine Richtlinie für care leaver geschrieben, die jetzt in vielen Ländern angewandt wird.
JfE: Junge Menschen, die davon betroffen sind, haben diese Richtlinie mitgeschrieben?
Genau, 15 Länder und 600 Teilnehmer waren involviert. Ich habe das Ergebnis meinen Jugendlichen zuhause gezeigt. In einigen Ländern, wie zum Beispiel Serbien, haben Jugendarbeiter dafür gesorgt, dass die Jugendlichen die Richtlinie der zuständigen Ministerin und anderen Entscheidern aus der Jugendhilfe persönlich vorstellen konnten. Das braucht aber immer das persönliche Engagement einiger Jugendarbeiter. Ich bin also auch hier, um herauszufinden, wie man ihre Stimmen länger hörbar machen kann und nicht nur während Events oder kurz danach.
JfE: Wenn du mehr Geld zur Verfügung hättest, wofür würdest du es einsetzen?
Viele Jugendliche haben ihre Situation akzeptiert und versuchen das beste für sich herauszuholen, andere haben keine Hoffnung mehr und wieder andere versuchen ihre Vergangenheit zu verbergen, weil sie glauben, es bringt ihnen Nachteile und sie werden verurteilt. Wenn wir wollen, dass sie partizipieren, müssen wir ihnen einen sicheren Ort, einen Raum geben, wo sie immer hinkommen können und orientiert an ihren Bedürfnissen teilnehmen können. Wo sie Computer und Drucker nutzen können, wenn sie sie brauchen. Dass sie einen Mentor bekommen, bereits ein Jahr bevor sie das Heim verlassen. Jemanden, der sie begleitet bei ihren Fragen und Problemen im ersten Jahr des selbstständigen Lebens. In Kroatien ist der Weg vom Heim auf die Straße sehr, sehr kurz. Wenn sie obdachlos geworden sind, wird es immer schwieriger sie zu integrieren, und das müsste nicht sein mit ein bisschen mehr Geld. Ich glaube, sie können nur durch eine andere Person eine richtige Stimme bekommen, indem derjenige als Übersetzer, als Dekoder für sie fungiert.
JfE: Und diejenigen, die keinen Dekoder haben?
Wir versuchen mit Arbeitgebern Kooperationen einzugehen und sie zu schulen, dass sie spezielle Jugendliche mit unterschiedlichen Traumata bekommen, die mehr Zeit brauchen, als andere, aber das funktioniert nicht immer. Ich arbeite auch mit Jugendlichen in Jugendgefängnissen. Deren Situation ist katastrophal. Die meisten beenden ihre Ausbildung als Koch oder Kellner im Gefängnis, sie lesen und schreiben schlecht und niemand will sie einstellen. Am Anfang versuchen sie mich meist mit ihrer Biographie zu schocken, aber wenn ich ihnen dann sage, dass mich das überhaupt nicht interessiert, sondern nur wohin sie wollen, sind sie überrascht. Sie müssen sich zum ersten Mal über ihre Persönlichkeit definieren und gleichzeitig fällt auch oft der Ballast von ihnen ab. Es macht mir großen Spaß zu sehen, wie stolz sie sind, wenn sie das erste Mal ihren Lebenslauf ausgedruckt in der Hand halten. Wenn ich ihnen sage, dass die Gefängnisschule einen Namen hat und sie nicht sagen müssen, dass sie im Gefängnis waren, wenn sie niemand fragt. Dass es darum geht, wie sie sich jetzt präsentieren und wenn sie sich bewiesen haben, können sie auch ihren Hintergrund schildern. Es wäre ihr Aus, wenn sie das bereits im Bewerbungsgespräch tun würden und ich würde sie kurze Zeit später wieder im Gefängnis sehen, weil sie wieder kriminell werden, um zu überleben.
(Das Interview führte Lisa Brüßler im Auftrag von JUGEND für Europa)
Bild: ©Lisa Brüßler
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