03.04.2017
Zwischen Chancen und Chancenlosigkeit
Wie können obdach- oder wohnungslose Jugendliche wieder in die Gesellschaft integriert werden? Auf dem europäischen Fachprogramm des 16. DJHT in Düsseldorf wurden die Empfehlungen der Strategischen Partnerschaft OVERHOPE präsentiert. Diese werden im Mai den Abgeordneten des Europäischen Parlaments zur Diskussion vorgelegt.
Irgendwann ist man drin in der Abwärtsspirale. Dann kann man die eigenen Freunde nicht mehr fragen, ob die Couch frei ist. Manchem Jugendlichen bleibt letztendlich nur noch der Gang in eines der Notquartiere für Erwachsene (oder eben der Gang auf die Straße) übrig.
Zuständig für wohnungslose Jugendliche fühlt sich eigentlich niemand. Nicht selten finden sie Platz direkt neben einem schweren Alkoholiker, der schon seit Jahren die Straße sein Zuhause nennt, erzählt Sonya Labidi von der Jugendbildung Hamburg. Altersgerechte Angebote gibt es jedenfalls kaum.
Dabei ist eine Unterbringung Grundvoraussetzung für ein unabhängiges Leben. Das jedenfalls ist die Überzeugung der Jugendbildung Hamburg gGmbH. Aus diesem Grund starteten sie im Oktober 2012 das Projekt UWE (Unterstützung wohnungsloser junger Erwachsener): Es soll wohnungslosen Jugendliche zwischen 18 und 35 Jahren ermöglichen, ein eigenständiges Leben zu führen. Denn, so Labidi, es reiche halt nicht, ihnen nur Wohnraum und Mahlzeiten zu geben.
Obdach- oder wohnungslose Jugendliche sind beileibe nicht nur ein gesellschaftliches Problem in Hamburg, sondern in ganz Europa. Und spätestens durch die vielen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die in den vergangenen Monaten nach Europa gekommen sind, hat sich die Problematik weiter verschärfte.
OVERHOPE - Wie die Partnerschaft begann
Sich dieser gesellschaftlichen Problematik anzunehmen und dabei voneinander zu lernen, war die Idee des Projektes "OVERHOPE". OVERHOPE steht für "OVERcome HOmelessness of Young PEople".
Seit November 2014 wird das Projekt im Rahmen einer Strategischen Partnerschaft durchgeführt. Sechs Länder waren anfangs an der Partnerschaft beteiligt, einige sind wieder abgesprungen, doch jetzt präsentieren Labidi von der Hamburger Jugendbildung, Antonio Rossi von der italienischen Associazione Futuro Digitale und Razvan Sassu von der rumänischen NGO Asociata Young Initiative die Ergebnisse.
"An was denken Sie, wenn ich 'Obdachloser' sage?", fragt Razvan Sassu das Publikum. "Vermutlich an einen älteren Mann, doch in der Realität sind es tausende von Jugendlichen in Europa, die, wenn sie über 18 Jahre alt sind, aus dem Jugendschutz-System herausfallen."
"Was ist, wenn Jugendliche keinen Zugang zu Seife, einem Kamm oder einem Medikament haben?", fragt Razan Sassu weiter. "Wir erschaffen damit eine unsichtbare Mauer der Ablehnung. Eine obdachlose Person sollte jederzeit auf einfachem Weg Zugang zu diesen Dingen haben, sonst schaffen wir Gesundheitsprobleme", erklärt er.
Die Idee von OVERHOPE ist es, das Recht auf eine Unterkunft, in das Zentrum der Überlegungen zu stellen. Und Unterkunft heißt mehr, als nur ein 'Dach überm Kopf' zu haben.
Zu Beginn des Projekts hatte jede Partnerorganisation einen schriftlichen Bericht über die Ziele verfasst, die er in seinem Land erreichen wollte. Nach einem Kick-Off-Event in Hamburg traf man sich anschließend in jedem Projektpartnerland, um die dortigen Realitäten kennenzulernen
"Wir haben Ähnlichkeiten und Unterschiede gefunden – im juristischen, aber auch im sozialen Kontext. In einigen Ländern gibt es massivere Probleme als in anderen", erzählt Rossi.
"Es gibt sehr unterschiedliche Wirklichkeiten in den einzelnen Ländern und wenn unsere Empfehlungen im Mai in Straßburg gut geheißen werden, können wir in die Details gehen", ergänzt Sassu.
#Endhomelessness
Beim finalen Treffen in Hamburg habe man sich vier Tage eingeschlossen: Die Berichte wurden zerstückelt, umgebaut, neu geclustert, um dann an den gemeinsamen Empfehlungen zu arbeiten: Welche Grundbedürfnisse müssen mindestens erfüllt sein, um wohnungslose Jugendliche auffangen zu können – und welche Vorschläge gibt, mit denen Obdachlosigkeit verhindert werden kann. Die so erarbeiteten Empfehlungen werden jetzt europaweit gestreut.
"Wir versuchen, die Art und Weise wie mit Obdachlosigkeit umgegangen wird zu ändern, denn das große Problem für viele ist, dass sie keinen Weg finden, der Spirale entfliehen", erklärt Antonio Rossi. Befähigung durch Bildung – das ist der Weg. "Wer nicht zur Ruhe kommen kann, der kann sich auch nicht der Arbeitsplatzsuche widmen", ergänzt Labidi.
Dies haben eindeutig die Erfahrungen aus dem Projekt UWE belegt, wie Labidi erklärt. Das Ziel 2012 sei es gewesen, neun wohnungslose Jugendliche aufzufangen und in Arbeit zu vermitteln.
Schnell sei indes klar geworden, dass Hindernisse wie psychisch desolaten Stimmungen, Suchtproblematiken und geschädigte Sozialisationsstrukturen erst einmal aufgefangen werden mussten. Kleine Schritte hin zu einem eigenen Leben mussten sich verfestigen. Strukturen wie Arztbesuche, sich waschen, regelmäßig essen und schlafen, mussten aufgebaut und eingehalten werden. "Das alles ist notwendig, damit gesellschaftliche Teilhabe später überhaupt möglich wird."
Die Realität der Straße
"Wenn du keine offizielle Meldeadresse hast gibt es ein Problem, denn deine Grundrechte sind nicht mehr gewahrt: Da ist kein Zugang mehr zum Arzt, zu Arbeit, zum sozialen Wohnungsbau, zum Wahlrecht und nationalen Gesundheitssystem außerhalb der Notfallhilfe", erklärt Rossi die bittere Realität.
In seiner Heimat arbeiten die "avvocata di strada", die Anwälte der Straße, dafür, dass dieses Grundrecht jedem zusteht. Denn es gibt ein Gesetz, dass jede Gemeinde in ihrer Verwaltungsstruktur eine 'fake-Straße' einrichten muss, damit auch die Obdachlosen eine Adresse haben können – nur, dass die meisten Gemeinden nichts von diesem Gesetz wissen.
Auch Maßnahmen gegen das illegale Vertreiben und für einen sensibleren Umgang mit Obdachlosen durch Polizisten seien dringend nötig, schildert Sassu die rumänische Realität: "In Kluj habe ich letztens im Park gesessen, als sich ein Obdachloser neben mich setzte und mir seine Geschichte erzählte. Nach zehn Minuten bedankte er sich für das Zuhören und sagte, dass es das erste Mal war, dass er nicht schlecht behandelt wurde – das hat mich sehr zum Nachdenken gebracht, wie viel Hass auf Obdachlose in der Gesellschaft ist."
Wandel in der Gesetzgebung
Der Strategischen Partnerschaft geht es darum, dass die nationalen Gesetze so weit geändert werden, dass das Recht auf eine Wohnung einklagbar wird. Die Formulierungen gäbe es im EU-Recht, Artikel 34, bereits ganz klar, nur finde die Umsetzung nicht statt, meint Labidi.
Konkrete Daten darüber, für wie viele Jugendliche das eine deutliche Verbesserung ihrer Situation bedeuten würde, gibt es nicht. Klar ist allerdings, dass das, was in Hamburg mit neun Jugendlichen begann, jetzt auf 90 angewachsen ist.
90 Jugendliche in einer Metropole wie Hamburg? Das ist natürlich nicht repräsentativ. "Wir arbeiten mit denen, die es irgendwie geschafft haben, zum Jobcenter zu kommen. Was mit den anderen ist – wir wissen es nicht."
(Lisa Brüßler für JUGEND für Europa)
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Mehr Informationen zu den Empfehlungen unter: www.overhope.eu.
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