11.07.2018
"Es existieren mehr Schubladen im Kopf, als in der Realität vorhanden sind"
Martin wohnt in Wien. Er will einen europäischen Freiwilligendienst machen. Doch das erweist sich als schwierig. Martin ist auf einen Rollstuhl angewiesen und hat eine Sprachbeeinträchtigung. Fünf Jahre dauert seine Suche. Am Ende braucht es einen Zufall, um zur Jugendakademie Walberberg zu kommen.
Das allerdings ist ein Glücksfall. Denn die Jugendakademie startet gerade das europäische Kooperationsprojekt "Europa für alle". Ihr Ziel: Mehr Jugendlichen mit erhöhtem Förderbedarf europäische Freiwilligenprojekte zu ermöglichen.
Warum Martins Suche fünf Jahre gedauert hat. Was notwendig ist, um eine solche Suche zu erleichtern. Und warum man vielleicht gar nicht von "Jugendlichen mit erhöhtem Förderbedarf" sprechen sollte, erläutert Silke Dust, Bildungsreferentin in der Jugendakademie Walberberg, im Interview.
JfE: "Europa für alle" heißt euer Kooperationsprojekt. Kannst du es mal kurz beschreiben?
Silke Dust: "Europa für alle" ist eine Strategische Partnerschaft. Unser langfristiges Ziel ist es, dass mehr 'Jugendliche mit erhöhtem Förderbedarf' an einem Freiwilligenprojekt im Europäischen Solidaritätskorps (ehemals Europäischer Freiwilligendienst) teilnehmen können.
In unserem Projekt arbeiten wir mit drei Partnern aus Glasgow/Schottland, aus Pavia/Italien und aus Ruse/Bulgarien zusammen. Wir führen verschiedene Freiwilligendienstformate durch – das sind sowohl individuelle Kurzzeit- wie auch Langzeitfreiwilligendienste, aber auch Gruppenfreiwilligendienste.
Eine unserer Thesen lautet: Wenn wir diese Zielgruppe erreichen wollen, müssen wir lokale Projektpartner gewinnen. Wir benötigen Einrichtungen vor Ort, die die Jugendliche bereits kennen, die die Jugendlichen motivieren können, einen Freiwilligendienst in Europa zu machen, und die die Jugendlichen auch durch verschiedene Höhen und Tiefen des Projektanbahnungsprozesses hindurch begleiten können.
Ist der Kontakt da und der Wille vorhanden, übernehmen wir die weitere Koordination auf deutscher Seite, und in den Partnerländern übernimmt dies unser Partnerkonsortium.
Also, das ist die Hypothese: Man agiert lokal, um die Jugendlichen überhaupt international auf den Pfad setzen zu können.
Im Projekt arbeitet ihr mit der Technischen Hochschule Köln zusammen?
Ja. Die TH Köln, also der Lehrstuhl für nonformale Bildung von Professor Thimmel, begleitet das Projekt wissenschaftlich. Es wird bei der wissenschaftlichen Begleitung vor allem darum gehen, Anstöße zur Praxisreflexion zu geben.
Was könnten solche Anstöße sein?
Auf unserem ersten Kick-Off-Meeting kam die Frage auf, warum man überhaupt von 'Jugendlichen mit erhöhtem Förderbedarf' reden muss? Kann man nicht einfach nur 'Jugendliche' sagen? Und was würde das bedeuten?
Eine erste Hypothese ist, dass wir viel genauer hinschauen müssen, was denn die erschwerten Zugangsvoraussetzungen sind. Handelt es sich z.B. um ein familiäres oder soziales Umfeld, welches den Freiwilligendienst nicht stützt? Oder ist die Herausforderung eher, Jugendliche aus dem ländlichen Raum zu gewinnen, in dem es möglicherweise keine Vorbilder gibt? Oder welche Unterstützung braucht ein Jugendlicher, der auf einen Rollstuhl angewiesen ist? Oder Jugendliche, die seit längerer Zeit arbeitslos sind?
Daraus folgen ganz praktisch Handlungsempfehlungen für das Programm. Eine Empfehlung ist zu überlegen, ob man bei der Förderung statt mit Außergewöhnlichen Kosten nicht eher mit einer Art Baukastensystem arbeiten sollte.
Wenn ich es richtig verstehe, wollt ihr davon wegkommen, Jugendliche in eine große Benachteiligungsschublade zu stecken. Vielmehr wollt ihr die Eigenschaften der Jugendlichen in den Blick nehmen und darauf aufbauend passende Angebote entwickeln.
Genau. Wir brauchen flexiblere Förderinstrumente, die das ermöglichen.
Nehmen wir ein anderes Beispiel: Für unseren schottischen Partner ist der überteuerte Wohnungsmarkt in Glasgow ein großes Problem. Da die Förderung aber über einheitliche landesweite Pauschalen läuft, ist es ganz schwierig in Glasgow überhaupt eine Organisation zu finden, die sich vorstellen kann, Aufnahmeprojekt zu werden. Und dieses Problem existiert ja nicht nur in Glasgow, sondern europaweit auch in anderen großen Städten.
Was wären weitere Empfehlungen? Schließlich soll das Europäische Solidaritätskorps, das nun eigenständiges EU-Programm wird, inklusiv gestaltet werden.
Ich finde, dass das Antragswesen deutlich verschlankt werden muss, damit sich auch kleine Organisationen am Europäischen Solidaritätskorps beteiligen können. Auch sollte eine Personalkostenförderung möglich sein, weil ansonsten die Gefahr groß ist, dass Einrichtungen, die ehrenamtlich arbeiten, vom Programm ausgeschlossen werden. Dies ist ja auch ein Ergebnis der Zugangsstudie von Professor Thimmel.
Interessant ist natürlich auch der Bereich Öffentlichkeitsarbeit und mit ihm die Fragen: Wie schafft man barrierefreie Zugänge? Was für Dokumente kann man in einfacher Sprache machen?
Letztendlich ist es beim Thema 'Inklusion und internationale Jugendarbeit' wichtig, eine größere Kooperation mit den Wohlfahrtsverbänden hinzubekommen bezüglich der Teilhabe von jungen Menschen mit verschiedenen Behinderungen.
Ihr hattet jetzt einen jungen Freiwilligen in Walberberg, Martin aus Wien. Martin ist unter anderem auf den Rollstuhl angewiesen. Fünf Jahre lang war er auf der Suche nach einem Projekt, welches ihn aufnimmt.
Ja, das finde ich unglaublich. Ich finde es auch unglaublich, dass er fünf Jahre tatsächlich dran geblieben ist und es immer weiter versucht hat. Und es war eigentlich ein Zufallsprodukt, das wir zueinander gefunden haben.
In unserer Auswertung haben wir Martin gefragt, wie er es findet, wenn von 'Jugendlichen mit erhöhtem Förderbedarf' geredet wird. Er hat gesagt, dass er persönlich lieber als Jugendlicher betrachtet werden will.
Jedoch ist das Kriterium in einem anderen Punkt sehr wichtig: Martin hat viele Einsatzstellen angeschrieben, die angekreuzt hatten, sie seien offen für Jugendliche mit erhöhtem Förderbedarf. Aber das hat nie mit seinen Bedürfnissen übereingestimmt. Zum Beispiel braucht er die Möglichkeit einer barrierefreien Unterkunft, eines barrierefreien Arbeitsplatz und so weiter. Das müsste viel klarer ausgeschrieben werden.
Das heißt, seine Bedürfnisse waren für viele Einrichtungen ein Hinderungsgrund?
Genau. Viele Projekte hat das abgeschreckt. Dazu kam eben auch, dass er neben dieser Notwendigkeit, einen Rollstuhl zu benutzen, auch eine Sprachbeeinträchtigung hat und man dafür eben auch Aufgaben finden muss, die zu ihm passen.
Für euch hat er Imagefilme produziert?
Richtig. Er hat verschiedene Filme über den Freiwilligendienst und über die Jugendakademie Walberberg gedreht.
Was könnt ihr anderen Einrichtungen an Erfahrungen mitgeben, die grundsätzlich offen für solche Projekte sind?
Zum einen würde ich sagen: Es existieren mehr Schubladen im Kopf, als in der Realität vorhanden sind. Und die Schubladen sind größer, als sie notwendigerweise sein müssten.
Wir haben zum Beispiel gedacht, dass unsere Büroeingänge nicht Rollstuhlkompatibel seien. Das stimmte so nicht. Außerdem war die tatsächliche Arbeit im Projekt viel leichter, als wir es uns vorgestellt hatten. Wir konnten immer offen kommunizieren. Martin hat ganz selbstbewusst vertreten, was er braucht und was nicht.
Also, der Idealfall: Er konnte viel mitnehmen, aber im Grunde habt ihr als Einrichtung genauso profitiert.
Auf jeden Fall. Es hat uns noch mal weitergebracht. Vor allem inhaltlich bei der Frage: Wie können wir Jugendliche wie Martin, die auf eine bestimmte Form der Unterstützung angewiesen sind, an Formaten der internationalen Jugendarbeit beteiligen. Die Diskussion und den Austausch mit ihm darüber fand ich sehr gewinnbringend.
Gehen wir noch mal zurück auf euer Projekt "Europa für alle". Welche weiteren Schritte sind da geplant?
Nächster Schritt in allen beteiligten Kommunen ist es, Jugendpolitiker/-innen anzusprechen und ins Boot zu holen. Wir haben in den einzelnen Regionen die Erfahrung gemacht, dass sich immer noch viel im Kreis der Städtepartnerschaften bewegt, aber die internationale Jugendarbeit viel zu wenig mitgedacht wird.
Wir werden außerdem weitere Freiwilligendienstprojekte durchführen. Letztendlich sind wir selber gespannt, welche Synergieeffekte sich bis Ende 2020 in diesem Projekt noch ergeben werden. Die Aufnahme von Martin ist ja nur ein Beispiel, was sich in so einer Strategischen Partnerschaft entwickeln kann.
Auf unserem letzten Treffen hatten wir einen Praxis- und Erfahrungsaustausch-Workshop mit lokalen Trägern. Da sind ganz wunderbare Sachen rausgekommen. Unter anderen hat unsere schottische Partnerin die Idee bekommen, ein Job-Shadowing bei einem lokalen Träger hier in der Nähe von Walberberg zu machen.
Die GFO Klostergarten Merten betreibt Quartiersmanagement im Ort und versucht gerade, insbesondere die Jugendlichen aus dem Dorf für Angebote zu gewinnen und die verschiedenen Gruppen im Dorf stärker zusammenzubringen – ein Ansatz, der in Glasgow ähnlich gefahren wird. Hier haben sich abseits der Strategischen Partnerschaft weitere Synergieeffekte ergeben.
Die Verbindung Merten nach Schottland wäre ansonsten vermutlich nicht zustande gekommen?
Nein. Garantiert nicht. Generell finde ich an den Strategischen Partnerschaften sehr reizvoll, dass sehr viele Nebeneffekte möglich sind. Es ist großartig, dass wir kontinuierlich als gleichberechtigte Partner drei Jahren lang an einem Thema transnational arbeiten können. Und dass wir über so einen langen Zeitraum, die Entwicklung von Kriterien für gelingende internationale Jugendarbeit gestalten können.
(Interview: JUGEND für Europa / Fotos: Jugendakademie Walberberg)
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Weiterführende Informationen
Die Seite zum Projekt "Europa für alle" befindet sich gerade noch im Aufbau. Zukünftig präsentiert sich die Strategische Partnerschaft hier...
Mehr zur Arbeit der Jugendakademie Walberberg erfahren Sie hier...
"Europa für alle" wird gefördert über die Leitaktion 2 des EU-Programms Erasmus+ JUGEND IN AKTION. Mehr zu den Fördermöglichkeiten erfahren Sie hier...
Das Europäische Solidaritätskorps (ESK) wird das neue EU-Programm für junge Menschen. Junge Menschen werden mit der Einführung die Möglichkeit erhalten, an einem breiten Spektrum von Projekten und Freiwilligenaktivitäten mitzuwirken. Eine erste Antragstellung soll im Oktober 2018 möglich sein. Informationen zur Programmnutzung finden Sie demnächst auf unserer Seite www.solidaritaetskorps.de.
Informationen zur Inklusions- und diversitätsorientierte Nutzung der Leitaktionen im Programm Erasmus+ JUGEND IN AKTION finden Sie hier...
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