29.08.2018
Europäisches Solidaritätskorps: "Der Austausch hier ist eine große Bereicherung"
Kitti Toth leistet seit September 2017 ihren Dienst im Europäischen Solidaritätskorps in der Tagesstätte ZeitRaum im Berliner Stadtteil Neukölln ab. Die (26-jährige) Ungarin hat Psychologie studiert und arbeitet nun in der Tagesstätte mit Menschen mit psychischen Erkrankungen. Aber sie therapiert nicht im klassischen Sinn, sondern backt und bastelt – und profitiert mehr davon als ihre Klienten, wie sie selbst sagt.
An einem großen Werktisch rollt Herr Schmidt* sorgfältig einzelne Seiten aus Werbeprospekten zusammen und betupft die Enden mit Kleber. Das entstandene Papierröllchen reicht er über den Tisch zu Kitti, die ihm gegenübersteht. Sie steckt die Papierröllchen zusammen und beginnt sie zu verflechten. Es ist leise in der Bastelwerkstatt, alle arbeiten konzentriert. Immer mehr Papierröllchen kommen dazu, bis ein Korb Formen annimmt,
Von Ungarn nach Neukölln
Rund 100 Papierröllchen braucht man für so einen Korb. Mitgebracht hat die Idee, die 26-Jährige Kitti Toth aus der ungarischen Stadt Debrecan. Sie arbeitet im ZeitRaum, einer Tagesstätte für Menschen mit psychischen Erkrankungen, im Berliner Stadtteil Neukölln.
Das Projekt ist Teil des Europäischen Solidaritätskorps (ESK).Es schafft Möglichkeiten für junge Menschen an Freiwilligen- oder Beschäftigungsprojekten im In- oder Ausland teilzunehmen, die Einfluss auf Gemeinschaften und Menschen in ganz Europa haben. Bis zu zwölf Monate kann ein Freiwilligendienst im Ausland dauern – so auch bei Kitti.
„Ich wollte den Klienten hier etwas aus meiner Heimat zeigen“, erklärt sie. „Meine Oma hat mir im vergangenen Sommer diese Technik beigebracht. Sie hat sie selbst auf einer Reise gelernt und jetzt ist sie eben mit mir weiter nach Neukölln gereist“. Seit September ist die studierte Psychologin bereits Freiwillige in dem Projekt, in dem seit über zehn Jahren Freiwillige aus Deutschland und ganz Europa mitarbeiten.
Sich Zeit und Raum nehmen: Das Projekt
Neuköllner mit psychischen Erkrankungen können für Aktivitäten und Austausch zu ZeitRaum kommen – einige bleiben nur ein paar Monate andere wiederum Jahre. „Die Wohnung zu verlassen und ein Ziel für den Tag zu haben, das sind ganz wichtige Schritte gegen den Rückzug. Daneben fördern die Gruppenaktivitäten auch die Weiterentwicklung von Fähigkeiten und sozialen Kontakten“, erklärt Leiterin Dorothea Meinzer. So wird gemeinsam gebastelt, gewerkt und gekocht – immer mit dem Ziel, die Menschen wieder in einen normalen Alltag zu integrieren.
Sich Zeit lassen, Raum geben und beschäftigt zu sein, darum geht es in der Kreativgruppe von Kitti, die immer mittwochs auf dem Programm steht. „Reiseprospekte sind wegen der bunten Farben besonders gut geeignet für die Papierkörbchen“, erklärt sie ihrer Gruppe. „Möchte ich aber zum Beispiel ein rotes Körbchen herstellen, muss ich mehrheitlich rote Werbeprospekte dafür verwenden“, ergänzt ihr Klient Herr Meister*.
„Es ist schön zu sehen, wie sich die Menschen weiterentwickeln. Herr Meister kann inzwischen bessere Körbchen herstellen als ich“, freut sich Kitti. Gleichzeitig hilft ihr die Gruppe bei Sprachschwierigkeiten weiter oder wenn ihr ein Wort auf Deutsch nicht einfällt.
Von Routinen und neuen Impulsen
Immer wenn Kitti morgens in die Tagesstätte kommt, geht es mit einem gemeinsamen Frühstück los. Etwa 30 Klienten kommen an unterschiedlichen Tagen zusammen. Eine Kochgruppe kümmert sich um das Mittagessen, das es pünktlich um 13 Uhr gibt. Aber auch Büroarbeit und Analysegespräche gehören zu Kittis Alltag: „Ich kann mich hier sehr gut weiterentwickeln, fühle mich als vollwertiges Mitglied und kann meine eigenen Ideen einbringen“, erzählt sie.
„Wir suchen gezielt etwas ältere Freiwillige, die mehr Erfahrungen mitbringen, weil die Fälle hier nicht ganz so einfach sind und wir die Freiwilligen auch in Supervisionen mit einbinden, für die es psychologisches Grundverständnis braucht“, erklärt Mitarbeiter Thomas, der gelernter Krankenpfleger ist.
Das Konzept von ZeitRaum beinhaltet, dem Freiwilligen mit der Zeit immer mehr Vertrauen und größere Aufgaben entgegen zu bringen. „Bei den europäischen Freiwilligen haben wir immer auch mit Sprachschwierigkeiten zu tun, dafür ist es für unsere Klienten aber auch sehr spannend Einblicke in die Kultur und Traditionen eines anderen Landes zu bekommen“, erklärt Leiterin Meinzer.
Je nach Fähigkeiten und Gruppenzusammensetzung setzen die Freiwilligen immer auch ein eigenes Projekt um: Kitti hat sich für ein Backprojekt entschieden, das sie jeden Dienstag anbietet – ein Rezept kommt von ihr, eins aus der Gruppe.
Verständigung ohne viel Worte
Aber es geht nicht nur um das Backen von Philadelphiatorten oder Apfelmusmuffins: Am Folgetag werden die Süßspeisen im hauseigenen Café zum Kaffeeplausch verkauft: „Wir versuchen bei allen Kreativprojekten aktuelle Trends zu finden und die Ideen der Klienten einzubinden, um auch Sinnhaftigkeit zu schaffen“, erzählt Thomas. Im vergangenen Jahr sind etwa bunte Lichterketten entstanden, die auf einem sozialen Weihnachtsmarkt verkauft wurden und der Gruppe nur so aus den Händen gerissen wurden – ein echtes Erfolgserlebnis.
Über eine Kommilitonin ist Kitti auf das Projekt in Neukölln aufmerksam geworden und da sie immer schon nach Deutschland wollte, begann sie Deutsch zu lernen. „Ich habe öfters das Gefühl, dass ich mehr von meinem Aufenthalt profitiere als andersherum, aber meine Kollegen sagen, dass ich Ihnen eine große Hilfe bin.“
Ihr Aufenthalt ist für sie vor allem eine Chance, sich informell weiterzuentwickeln: „Ich hätte ja auch in einer Klinik in Ungarn arbeiten können anstatt den Dienst im Europäischen Solidaritätskorps anzutreten, aber der Austausch hier mit den Klienten auch auf einer anderen Sprache, ist eine große Bereicherung. Ich kenne außerdem viele Methoden und Theorien, die ich meinen Kollegen hier mit Präsentationen und Handouts beibringe, die ihnen neu sind“, erzählt Kitti.
Offenheit fängt im eigenen Mikrokosmos an
Solidarität steht hier nirgends geschrieben, sie wird aktiv gelebt. „Wir sprechen auch über Politik und unterschiedliche Traditionen, auch weil Vielfalt und Diversität in Ungarn noch nicht so entwickelt sind wie hier und ich ganz andere Erfahrungen mitbringe“, sagt Kitti.
Mit einem Schmunzeln erinnert sie sich daran zurück als sie das erste Mal nach Berlin kam und ein lesbisches Pärchen in der Öffentlichkeit sah oder eine Frau, die ihr Baby stillte: „Ich hatte erst einen kleinen Kulturschock, weil ich immer dachte, ich bin tolerant und offen, aber aus der Ferne sagt sich das leichter als aus der Nähe.“
Wenn sie jetzt mit ungarischen Freunden unterwegs ist und etwas Ähnliches passiert, nimmt sie es als normal wahr: „Ich hoffe, dass ich mit meiner Haltung auch ein Stück weit das Bild in Ungarn verändern kann, dass Kinder so etwas nicht nur in Filmen, sondern auch auf der Straße sehen. Dass es auch normal wird, dass eine Apothekerin ein Kopftuch tragen kann.“
(Lisa Brüßler für JUGEND für Europa)
*Namen von der Redaktion verändert
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Weiterführende Informationen
Link: Alle Informationen zum EU-Programm Europäisches Solidaritätskorps finden Sie auf unserer Programmseite...
Link: Informationen zur Arbeit der ZeitRaum gGmbH finden Sie hier...
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