21.10.2018

"Warum soll ich denn wegfahren?"

"comeback 2018" – das Rückkehr-Event im Europäischen Solidaritätskorps bedeutet auch auf die Straße zu gehen und mit den Menschen über Europa zu reden. Wie vielfältig und mühsam das sein kann, lernten die Ex-Freiwilligen in den Randbezirken Berlins schnell. Als "lebende Bibliotheken" kamen sie mit Bewohnern ins Gespräch.

"Wir sind im Auftrag von Europa unterwegs", ruft Peter einem verdutzten Marzahner Bürger zu, der auf dem leergefegten Helene-Weigel-Platz unterwegs ist. Um den Hals trägt er ein Schild auf dem steht: "Balkan – alles nur Pulverfass oder was?" Die Absicht: In den Dialog kommen über Europa und über Vorurteile.

Er und Julia, seine Partnerin bei der Straßenaktion des diesjährigen comeback-Events, leisteten ihren Dienst im Europäischen Solidaritätskorps in Mazedonien und auf der Insel Chios in Griechenland ab. "Meistens werde ich gefragt wo Mazedonien überhaupt ist und ich wollte Sie fragen, was Sie so mit dem Balkan verbinden?", fragt Peter den Mann geradeheraus.

Der antwortet: "Vor allem die Konflikte der 1990er Jahre, die Kriege und die Folgen davon, an denen viele der Länder noch heute zu knabbern haben." Mit der Antwort hatte Peter schon gerechnet. Ob er denn auch von dem historischen Ereignis, das heute in Mazedonien stattfindet, gehört hätte, fragt er weiter. Warum? Die Namenstreitfrage zwischen Griechenland und Mazedonien geht heute durch das mazedonische Parlament, erklärt er dem Herrn, der nicht so recht folgen kann.

Die Vermittlung von Europa ist mühsam

Man merkt, dass Peter von Land und Bewohnern begeistert ist. Ein Jahr lang arbeitete er in einem Jugendclub in einer mazedonischen Kleinstadt. Den Bürgern, denen sie begegnen, erklärt er, dass der Durchschnittsverdienst in Mazedonien bei etwa 200 Euro im Monat liegt.

Julia wiederum lebte in einem griechischen Dorf und arbeitete in einer Grundschule mit. Die Sprache ihrer Gastländer konnten beide zunächst nicht, antworteten sie auf die Fragen der Bürger. Aber das sei auch kein Problem gewesen, weil das meiste über "learning by doing" zu bewältigen sei. Für manche unvorstellbar: "Unsere Heimat ist so schön und ich spreche auch keine andere Sprache. Warum sollte ich denn wegfahren?", fragten einige der Passanten an diesem herbstlich kühlen Vormittag in den Straßen Berlin-Marzahns.

"Es ist ziemlich mühsam, mit den Leuten hier über Europa ins Gespräch zu kommen", sagt Julia. Doch dann treffen die beiden zwei Frauen, die sich für ihre Fragen interessieren: "Ich assoziiere mit Teilen des Balkans das Armenhaus Europas und auch aufkeimenden Nationalismus. Das was in Griechenland passiert ist, war ein Ausverkauf", sagt die eine Frau.

Einer Erweiterung der Europäischen Union stehen beide kritisch gegenüber: "Die EU muss erstmal mit sich selbst zurechtkommen, eine Erweiterung würde sie noch mehr schwächen“, plädiert die andere Frau.

Es bleibt eine weitere Frau stehen und erzählt, dass sie 80 Jahre alt ist und ihre Enkelin ein Auslandsjahr macht: "Ich selbst kenne nur die Länder des ehemaligen Ostblocks", sagt sie, "aber immer, wenn ich das Fernsehen gucke und es um Konflikte geht, muss ich abschalten, weil es schlimme Erinnerungen aus der DDR bei mir weckt", erklärt sie den Jugendlichen, die so etwas zum ersten Mal persönlich hören.

Eine andere Lebenseinstellung

Peter und Anna sind nur zwei von rund 200 Jugendlichen, die an diesem Nachmittag die Straßen Berlins erobern. Sabrina war in Estland, auf ihrem Plakat steht geschrieben: "In Estland ist Schaukeln eine Sportart". Amanda war in Finnland und hat auf ihrem Plakat "Das Land der Saunen" notiert.

Nach Dänemark ging es für Anna und Gabriela, die ihren Freiwilligendienst in einem inklusiven Wohnprojekt mit Menschen mit Behinderung absolviert haben. "Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung", steht auf Annas Plakat. Passenderweise: Denn die vergangenen acht Monate hat sie praktisch nur in Gummistiefeln verbracht, erzählt sie bei der Aktion.

"Das Projekt war in einem kleinen Ort, wir hatten eine eigene Bäckerei und ein Gartenprojekt und das Wetter konnte uns an nichts hindern", erzählt sie. "Wir sind auch einfach im Bademantel Milch kaufen gegangen oder haben im Schlafanzug Spinat geerntet und es hat niemanden gestört. Das war eine befreiende Erfahrung", lacht Gabriela.

Andere Länder, andere Sitten

Auf ihrem Plakat steht geschrieben "Hygglig ist mehr als ein Gefühl". "Das beschreibt in Dänemark eigentlich eine Lebenseinstellung", erklärt Gabriela den Passanten. Anna ergänzt: "Als meine Gastmutter Geburtstag gefeiert hat, haben am Ende der Party alle zusammen aufgeräumt und in einer Stunde war es wieder blitzblank“. Auch wenn man eingeladen ist und mittendrin müde wird, könne man sich einfach mal aufs Sofa legen, das sei nicht unhöflich, erklärt sie den verdutzt dreinblickenden Passanten.

Wie man Informationen zum Europäischen Solidaritätskorps bekommen könne, fragen zwei 13-jährige Mädchen: "Ich habe bei einer Berufsorientierungsveranstaltung in der Schule davon erfahren", erklärt ihnen Gabriela. Sie komme allerdings aus einer Familie mit Migrationsgeschichte und ihr Vater habe den Freiwilligendienst immer etwas kritisch gesehen: "Er war der Überzeugung, dass ich dieselben Erfahrungen auch zuhause hätte machen können, aber das ist nicht so", ermutigt sie die Mädchen auch gegen Widerstände zu kämpfen.

"Die Straßenaktion war jetzt kein großes Ereignis, aber ich bin total motiviert, vielleicht mal an meine alte Schule zu gehen und von meiner Zeit in Salamanca zu erzählen", resümiert Cynthia die Aktion. "Ich habe in einem Kinder- und Jugendheim mit angeschlossener Schule mit sozial schwächeren Kindern gearbeitet und die Zeit war eine absolute Bereicherung, auch dass ich Spanisch gelernt habe währenddessen", erzählt sie. Insofern empfinde sie den Auftrag Europas als ständiges Geben und Nehmen.

Text: Lisa Brüßler für JUGEND für Europa
Fotos: Bettina Ausserhofer, Berlin / Lisa Brüssler, Berlin

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