08.11.2018

Dream it – do it: Pionierprojekt für Blinde und Sehbehinderte

Teilnehmer des Projekts "Dream it - do it" bei einer Aufwärmübung

Wenn du es träumen kannst, kann es auch real werden. Unter diesem Motto trafen sich im September in Berlin rund 30 sehbehinderte oder blinde junge Menschen aus neun Ländern Europas, um sich auszutauschen. Wie kann eine aktivere Beteiligung am Leben in Europa ermöglicht werden? Wie können Inklusion und Kompetenzerwerb für Menschen mit besonderen Bedürfnissen vorangetrieben werden? Der Austausch arbeitete erste Ideen dafür aus.

Ein Sonntagmorgen in Berlin. In einem großen Raum eines Hostels sitzt eine Gruppe junger Engagierter, die acht Tage lang ein Training im Rahmen von Erasmus+ JUGEND IN AKTION vor sich haben. Eigentlich ist alles wie immer, nur ein paar Dinge sind anders: Aus einigen Hosentaschen lugen weiße Stöcke hervor, unter einem Tisch liegt ein Hund, immer wieder halten die Jugendlichen ihr Smartphone ans Ohr, so als würden sie eine Sprachnachricht hören.

Es ist viel Technik auf den Tischen zu sehen, Namensschilder gibt es nicht und anstatt einer Powerpoint-Präsentation liegen vor den Teilnehmern weiße Zettel mit einer Schrift, die mit den Fingern gelesen werden muss. "Wir bilden Gruppen von sieben bis acht Personen", erklärt Claudia aus Frankreich gerade der Gruppe. Sie ist heute dran, die Aufwärm-Aktivität zu gestalten.

Das wichtigste Instrument ist die Stimme

"Die Gruppen sollten sich aus sehenden und blinden Teilnehmer zusammensetzen", sagt sie. Gemurmel beginnt, es dauert alles etwas länger als üblich – alles was visuell wahrgenommen werden könnte, muss mündlich kommuniziert werden: Die Stimme ist hier das wichtigste Instrument. Dann haben sich die Gruppen gefunden und die Jugendlichen stehen Schulter an Schulter im Kreis.

Jeder solle die Hände eines anderen Teilnehmers greifen und nun müsse das Armgewirr wieder entwirrt werden, erklärt Claudia. Eine Aufgabe, die selbst sehend nicht ganz einfach ist, für blinde und sehbehinderte Menschen aber eine noch größere Herausforderung darstellt: Es gilt allein über die Kommunikation eine gemeinsame Strategie zu finden. 

"Ich war noch nie mit so vielen blinden Menschen aus unterschiedlichen Ländern zusammen", erzählt Esma aus Georgien. Sprachkenntnisse und eine möglichst hohe eigene Mobilität sind hier die Türöffner: Wer keine grundlegenden Englischkenntnisse und ein gewisses Niveau an eigener Mobilität im öffentlichen Raum besitzt, kann nicht am Training teilnehmen.

Ein Partnernetzwerk entsteht: Sehr unterschiedliche Bedingungen in den beteiligten Ländern

Teilnehmer des Projekts Dream it - do it"Ich habe meinen Europäischen Freiwilligendienst bei VIEWS International in Belgien gemacht und dort Projekte mitentwickelt. Unter anderem haben wir auch ein Partnernetzwerk von Verbänden, die mit blinden und sehbehinderten jungen Menschen arbeiten, gegründet", erklärt Max Grote dazu, wie der Austausch entstanden ist.

Auf einer Gesamtkonferenz der Verbände im September 2017 wurde gemeinsam überlegt, was für Ideen verwirklicht werden können: "Jeder brachte eigene Ideen, Probleme und Bedarfe aus seinem Land mit, auch weil die Voraussetzungen bezüglich Barrierefreiheit und Partizipation sehr unterschiedlich seien", erklärt Grote.

So entstand die Idee, einen gemeinsamen Austausch zu machen, um genau darüber zu sprechen. "Bestimmte Probleme gibt es überall oder sie sind ähnlich und da wollten wir eine Brücke schlagen", sagt er. Weil Grote Kontakte zum Deutschen Blinden- und Sehbehinderten Verband (DBSV) hat, begannen die beiden Organisationen an einer gemeinsamen Bewerbung zu arbeiten.

Sieben Partnerorganisationen aus Italien, Frankreich, Georgien, Finnland, Island, Rumänien, Spanien fanden sich, die den Austausch mittragen wollten. "Der DBSV hatte bereits einige Kontakte, sodass das Partner-Finden ziemlich schnell Fahrt aufgenommen hat."

Ab Januar 2018 gab es erste Skype-meetings und Gespräche, um an dem Antrag zu feilen: "Aus der Ideensammlung hat sich herauskristallisiert, dass wir nicht nur eine Jugendbegegnung machen wollen, aus dem das Potential möglicherweise wieder schnell verpufft, sondern dass ein paar konkrete Projekte aus dem Austausch entstehen und wir einen Prozess anstoßen, mit dem das Erasmus+-Programm zugänglicher wird für Menschen mit Behinderungen oder weniger Chancen allgemein", sagt Grote. 

Das schließe auch das Wachsen der gemeinsamen Plattform mit ein.

Erasmus+ JUGEND IN AKTION will jeden Jugendlichen mitnehmen

Wie junge Menschen mit Einschränkungen selbst das Programm für sich nutzen können, bringt Robert Heim-Pleuger von Eurodesk den 25 jungen Europäern mit einem anfänglichen Input näher.

Die Formalia, Deadlines und Tipps rund um das Thema Förderung sind den meisten neu, werden aber für die spätere Projektplanung essentiell. Und einen weiteren Punkt erläutert Helm-Pleuger: "Wenn ihr mehr finanziellen Unterstützungsbedarf für einzelne Jugendliche, zum Beispiel für jemanden mit einer Behinderung braucht, ist das kein Problem", gibt er den Teilnehmern mit: "Die Idee des Programms ist, dass jeder Jugendliche aus Europa, egal mit welchem Hintergrund, teilnehmen kann.

Informationsmaterial in BlindenschriftGenau das sei aber in der Praxis mit einiger Mühe verbunden, erklärt Robbie Sandberg vom DBSV: "Es ist für uns als Blinde eine riesige Herausforderung, die entsprechenden Anforderungen im Programmleitfaden zu finden. "Der ist mit über 300 Seiten sehr lang und wir können natürlich nicht, wie Sehende, einmal querlesen und den Guide auf bestimmte Begriffe und Infos scannen, die für uns relevant sind, sondern wir müssen alles lesen“, verdeutlicht er.

Eine weitere Hürde stelle auch das mobility tool dar, das nicht barrierefrei sei, merkt Sandberg an.

Wo sind die Bedarfe? – Erste Projektentwürfe

Eine Jugendbegegnung rund um das Thema "Bewusstseinsbildung" zu organisieren, ein "inter-disability" Sommercamp vorzubereiten oder ein Strategiepapier zu erstellen zur langfristigen Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Stadträten zum Thema Inklusion: Die Liste an Ideen für potentielle Projekte ist lang.

Andrei und Laura aus Rumänien, Nick aus Georgien und Ibrahim aus Belgien arbeiten die folgenden Tage an einer Jugendbegegnung zum Thema Bewusstseinsbildung: "Für mich beginnt das Ausbilden eines Bewusstseins für ein Thema zuallererst bei uns selbst. Bei den Grenzen, denen wir begegnen, die wir uns aber auch selbst setzen und bei dem Selbstvertrauen, was du im Alltag benötigst – wie du also auftrittst. Da könnten wir mit Aktivitäten ansetzen", versucht er seine Gruppe zu überzeugen.

"Wir könnten mit zwei Teilen arbeiten: Einem, in dem Sehende verstehen und üben können, wie sie mit blinden Menschen umgehen, und einen Teil für Blinde und Sehbehinderte, wie sie sich selbst akzeptieren und in verschiedenen Situationen flexibel reagieren können", macht Laura einen Vorschlag. 

Nick aus Georgien schaltet sich ein: "Wir müssen uns erst einmal überlegen, wen wir erreichen und mit wem wir genau arbeiten wollen. Ich plädiere für Jugendliche zwischen 18 und 30 Jahren", plädierte er. "Cluj in Rumänien könnte ein guter Ort für die Jugendbegegnung sein, da gibt es bereits eine gute Infrastruktur für Blinde", fügt Andrei hinzu.

Wie ein "inter-disability camp" aussehen könnte 

Nur einen Tisch weiter wird an der Idee des Sommercamps gearbeitet. Esma aus Georgien hatte die Idee dazu: "Wir möchten damit dazu beitragen, dass junge Menschen mit Behinderungen unabhängiger und informierter werden, was ihre Möglichkeiten sind", erklärt sie. "Ich fände gut, wenn wir etwa 30 junge Menschen aus fünf bis sechs europäischen Ländern erreichen könnten."

So könne es während der Begegnung ja je einen Tag geben, an denen bestimmte Themen wie Menschenrechte, Mobilität oder Hilfe durch Technologie intensiv behandelt werden. Daneben könnten aber auch ganz praktische Übungen durchgeführt werden, etwa wie man am besten den Blindenstock nutzt, präsentiert sie die Idee ihren Gruppenmitgliedern aus Spanien, Island und Frankreich. 

"Ich fände gut, wenn es eine Gender-Balance gibt bei den Teilnehmern und nicht mehr als sechs Teilnehmer pro Land dabei sind, um verschiedene Gegebenheiten kennenzulernen", merkt Claudia aus Frankreich an. Eythor aus Island gibt zu bedenken: "Momentan sind wir vier Partnerländer. Wenn wir noch zwei weitere einbinden möchten, bedeutet dass, das wir schon bei 36 Teilnehmern sind – ich denke 30 sollte das Maximum sein." Er findet, dass für das Projekt besser keine Liste der verschiedenen Formen von Behinderung angefertigt werden solle, damit niemand ausgeschlossen wird.

Carmen aus Spanien ergänzt: "Wir müssen unbedingt auch bedenken, dass einige vielleicht kein Englisch können oder ihre Familien sie nicht gehen lassen, da müssen wir Unterstützungsbedarf einplanen", erinnert sie das Team.

Technik zur UnterstützungDass so ein Projekt auch die Chancen auf dem Arbeitsmarkt für junge Menschen mit Behinderung verbessern könne, ist Malia aus Italien besonders wichtig. "Ich habe oft beobachtet, dass der Zugang zur Uni für blinde Jugendliche erschwert ist oder dass es nicht ohne Hilfe geht", sagt die Studentin der Kommunikationswissenschaft.

"Das setzt sich dann in der Arbeitswelt fort und hat oft auch etwas mit dem Äußeren zu tun, auf das Blinde oftmals nicht so sehr achten können", erklärt sie. In Italien sei die Situation, was die Mitwirkung in der Gesellschaft angehe, zwar sehr gut, weil die Blindenverbände eine gute Stimme haben. "Ich habe aber hier schon mitbekommen, dass das in anderen Ländern nicht so ist", sagt sie.

Vorbildcharakter für andere Projekte dieser Art

Dass die Begebenheiten und Voraussetzungen sehr unterschiedlich sind, war auch für die Organisatoren ein Lernprozess, erklärt Robbie Sandberg: "Bei neun Partnern hat man natürlich öfters mal auch ein anderes Bewusstsein für Deadlines. Manche brauchen da einfach länger als wir es vielleicht erwartet hatten, das muss man bei der Planung berücksichtigen."

Kleine Details, wie etwa die Abholung der Teilnehmer vom Flughafen müssten mitbedacht werden, weil das natürlich eine sehr große Herausforderung für viele sei. Das gelte auch für die Essensausgabe im Hostel und für Ausflüge: "Wir haben sehr gute Erfahrungen mit Freiwilligen-Plattformen gemacht, aber da müssen natürlich auch die Anweisungen für die Helfer vorbereitet werden, die oft keine Erfahrung im Umgang mit Blinden und sehbehinderten Menschen haben", sagt Sandberg.

Auch beim Infomaterial für den Austausch müssen die unterschiedlichen Zugänge der Teilnehmer immer wieder berücksichtigt werden. Es sei nämlich keineswegs so, dass alle die Blindenschrift beherrschen. "Solche Details bringt einem natürlich am Anfang niemand bei, das muss man alles erst herausfinden", bemerkt er. 

Seine Kollegin Annika Dipp pflichtet ihm bei: "Wir ziehen ein positives Resümee aus dem Austausch. Wir haben uns sehr gefreut, dass einige Projektideen als Anträge eingebracht werden wollen in der nahen Zukunft – das haben wir uns erhofft, aber nicht unbedingt erwartet", sagt sie.

Aber auch der Austausch unter den Teilnehmern über Ideen, hilfreiche Technologien und Apps sei schon ein tolles Ergebnis an sich und ein gelungenes Beispiel für europäischen Erfahrungsaustausch.

(Text und Fotos: Lisa Brüssler für JUGEND für Europa)

---

Weiterführende Informationen

Link: Mehr zur Arbeit des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband e. V. erfahren Sie hier...

Link: Informationen zur Förderung von Fachkräftemaßnahmen über das EU-Programm Erasmus+ JUGEND IN AKTION bekommen Sie hier...

Link: Erasmus+ JUGEND IN AKTION will alle jungen Menschen erreichen. Mehr Informationen zur inklusions- und diversitätsorientierten Neutzung des Programms erhalten Sie hier...

Kommentare

    Bislang gibt es zu diesem Beitrag noch keine Kommentare.

    Kommentar hinzufügen

    Wenn Sie sich einloggen, können Sie einen Kommentar verfassen.