23.08.2019
"Ein Experiment für alle" - Projektbesuch eines Freiwiligenteams
Das erste Mal raus aus der Heimat – für 23 Jugendliche aus Bulgarien, Italien, Schottland und Deutschland wurde das im Juli zwei Wochen lang Realität. Im Rahmen des Europäischen Solidaritätskorps sammelten sie Erfahrungen rund um die Themen Umwelt, Nachhaltigkeit und das Zusammenleben verschiedenster Generationen. Und das wurde durchaus praktisch: die Außenanlage der Einsatzstelle "GFO Klostergarten" ist nun eine andere.
Dildar sitzt auf einer Bierbank an einem provisorischen Tisch. Um ihn herum liegen Werkzeug und schwere Blöcke aus weißem Porenbeton. Als er einen älteren Herrn aus dem Gebäude gegenüber kommen sieht, springt er auf. "Herrn Sicking", ruft er und geht auf ihn zu, "kommen Sie, ich helfe Ihnen, sich zu mir zu setzen!" Der ältere Herr lebt hier in dem intergenerationellen Zentrum. Früher hat er selbst Wohnmobile gebaut, aber in den letzten Jahren ist die Kraft einfach nicht mehr da. In der kommenden halben Stunde zeichnen er und Dildar einen ersten Entwurf auf Papier und übertragen ihn auf den Betonblock.
Dildar ist Teil eines Freiwilligenteams im Europäischen Solidaritätskorps (ESK). Dabei engagieren sich junge Menschen zwischen 18 und 30 Jahren europaweit in kleinen Gruppen für einen Zeitraum von zwei Wochen bis zu zwei Monaten. Die Projekte, in denen sie mitarbeiten, stärken den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dildar und die anderen 22 Jugendlichen kommen aus Bulgarien, Italien, Schottland und Deutschland. Sie arbeiten zwei Wochen lang im Dorf Merten bei Bonn im GFO Klostergarten, einer Einrichtung für Kinder, Jugendliche, Mütter und Senioren mit.
Thematische Anker nötig
"Den Fokus des Freiwilligenteams haben wir gesetzt mit den Themen Umwelt, Nachhaltigkeit und intergenerationellem Miteinander", erklärt Silke Dust von der Jugendakademie Walberberg. Dort wurde der Antrag für das Freiwilligenteam gestellt und die pädagogischen Inhalte werden hier erarbeitet. "Die teilnehmenden Jugendlichen zählen zu denen mit ‚geringeren Chancen’, kommen also aus ländlichen Regionen, sind mit Arbeitslosigkeit konfrontiert oder haben einen Fluchthintergrund", erklärt Dust. Sehr wichtig sei deshalb, dass aus jedem Land ein Betreuer mit dabei ist.
"Ich habe manchmal das Gefühl, die Jugendlichen saugen die kurze Erfahrung hier auf wie Schwämme", sagt Dust. Sie schätzt den praktischen Ansatz bei Freiwilligenteams – dass die Tätigkeiten sinnstiftend sind und für Zufriedenheit sorgen. "In diesem Projekt kann ganz nebenbei ein Bewusstsein für Nachhaltigkeit geschaffen werden", freut sich Dust. Die Jugendlichen laufen etwa jeden Tag von der Unterkunft zum Klostergarten – 40 Minuten hin und wieder zurück.
Besondere Momente schaffen
Dort angekommen treffen die Jugendlichen jeden Tag auf unterschiedlichste Menschen. Während sie am ersten Tag an der Gymnastik-Gruppe der Senioren teilnahmen, ging es am zweiten in die Kindertagesstätte. Dort bauten sie zusammen mit den Kindern Hochbeete. Wenige Tage später galt es aus einer schnöden Grünfläche im Garten durch Hortensien und neue Holzbänke einen Ort zum Entspannen und Ausruhen zu machen. Im Mutter-Kind-Haus der Einrichtung sollen Kindermöbel aus Paletten entstehen.
Im Klostergarten ist die Arbeit der kleinen Teams an den Skulpturen in vollem Gang. Abgesplitterte Betonteile liegen auf dem Boden verstreut. Die 18-jährigen Vyeronika, die aus Pavia in Italien kommt, zeichnet gerade die vier Elemente Feuer, Wasser, Wind und Erde auf einen Stein.
"Mich freut, dass sich in den wenigen Tagen hier mein Englisch schon etwas verbessert hat", erzählt Vyeronika, die gerade Schulferien hat. "Ich wollte während der Zeit hier mehr über mich selbst herausfinden, denn ich bin das erste Mal im Ausland und dafür sind die zwei Wochen Zeit optimal", sagt sie.
Dass sie jeden Abend weiß, was sie tagsüber geleistet hat, macht sie zufrieden, erzählt sie über ihren Entwurf gebeugt.
Kunst verbindet
Immer mehr Senioren bleiben mit neugierigen Blicken stehen und schauen dem bunten Treiben zu. Vyeronika hebt ihren Blick und sagt leise: "Ich glaube, die älteren Menschen haben uns viel beizubringen und zu teilen, aber das ist leider schwierig, weil sie kein Englisch sprechen." Sie übergibt das fragile Kunstwerk an Aron (21) aus Glasgow, der es weiter mit der Feile bearbeitet.
"Für mich als Muttersprachler ist es toll den anderen zu helfen, ihr Englisch und damit auch ihr Selbstbewusstsein zu verbessern", erzählt Aron. Zuvor war er noch nie mit so vielen unterschiedlichen Kulturen und Nationalitäten zusammen – und das obwohl er in Schottland sogar im Tourismus arbeitet: "Ich interessiere mich für Nachhaltigkeit und Deutschland ist sehr weit, was das angeht", sagt er. Er könnte sich gut vorstellen, auch einen längeren Freiwilligendienst anzutreten. "Dann möchte ich aber nach Italien", sagt er lachend.
Nur ein Stockwerk höher, auf der Terrasse mit Blick ins Umland, sitzen Stanislav (29) und die 18-jährige Margarita mit zehn älteren Damen im Schatten und binden gemeinsam Lavendelsträuschen. Stanislav ist Sozialarbeiter im bulgarischen Russe und arbeitet regelmäßig mit Kindern, Senioren und Roma: "Ich wollte lernen, wie man hier mit den Menschen umgeht und was man mit ihnen unternimmt", erzählt er. Dass hier viel Zeit im Gespräch zu zweit verbracht wird, hat ihn erstaunt. In seinem Job verbringt er seine Zeit vor allem mit bürokratischen Prozessen: "Man macht hier kleine Spaziergänge, hört sich zu und arbeitet kreativ miteinander – das möchte ich mitnehmen in meine Heimat", sagt er.
Margarita holt gerade Nachschub an den kräftigen Lavendelsträuchern. "Ich bin in meinem letzten Schuljahr und wollte einmal eine neue Umwelt kennenlernen", erzählt sie. Es ist ihr erstes Mal fernab der bulgarischen Heimat. "Ich bin total stolz auf mich, dass ich diesen Schritt gewagt habe und mitgekommen bin", sagt sie. Gleichzeitig ist es ihr aber wichtig, dass sie nicht alleine reisen musste und andere Jugendliche ihre Sprache sprechen. In der kurzen Zeit seien sie ein richtiges Team geworden, sagt Margarita und deutet auf die bunte Gruppe am Tisch.
Herr Sicking, der ältere Herr, hat Dildar inzwischen das "Du" angeboten. Aus ihren ersten Zeichnungen ist in den vergangen zwei Stunden ein Herz mit ihren beiden Initialen geworden. "D+ S" steht da. Für das kleine Kunstwerk muss noch ein geeigneter Platz im Klostergarten gefunden werden. Im Gegensatz zu den anderen Freiwilligen kann Dildar nach dem Ende des Dienstes auch noch mal zurück in die Einrichtung kommen: "Ich habe vor kurzem eine Ausbildung zum Altenpfleger in Bonn angefangen, das ist ja nur eine halbe Stunde von hier entfernt", sagt er an Siggi gewandt.
(Text: Lisa Brüssler im Auftrag von JUGEND für Europa / Bilder: JUGEND für Europa)
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Weiterführende Informationen
Link: Weitere Informationen zum Format Freiwilligenteams im Europäischen Solidaritätskorps: www.solidaritaetskorps.de/mitmachen/freiwilligenteams/
Link: Mehr zum Projekt der Jugendakademie Walberberg erfahren Sie hier: https://www.europeforall.net/
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