02.11.2020
Porträt einer ESK-Freiwilligen: "Zwischen Corona und dem Einsatz für Menschen mit geistiger Behinderung und Autismus"
Ein Freiwilligendienst im Ausland verändert die Sicht auf die Welt, auf Europa und auf sich selbst. Beim comeback 2020, dem Rückkehr-Event im Europäischen Solidaritätskorps, trafen sich rund 200 ehemalige Freiwillige virtuell. Wie der Freiwilligendienst in Corona-Zeiten sie verändert hat, erzählt Frederike Liebelt (24).
Frederike Liebelt (24) war ein Jahr in der Organisation „Kingsriver“ im irischen County Kilkenny
Von der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover in das kleine Dorf Stoneyford im irischen County Kilkenny – das wurde für die 24-jährige Frederike Liebelt ein Jahr lang Realität. Ihr Einsatz im Europäischen Solidaritätskorps (ESK) führte sie in die Kingsriver-Lebensgemeinschaft für Menschen mit geistiger Behinderung und Autismus, die Trainings, Therapien und Workshops für Erwachsene verschiedenster Hintergründe durch. Dazu gehörte für die vier Freiwilligen auch, mit den Bewohnern zusammen zu leben und den Alltag zu teilen.
"Ich habe nach Projekten im englischsprachigen Raum gesucht, weil ich mich mit der Sprache relativ sicher fühle und mich gerne richtig mit den Leuten unterhalten wollte – noch eine neue Sprache zu lernen, habe ich mir nicht zugetraut", erzählt Liebelt.
Eine Vorstellung von ihrem neuen Zuhause hatte sie bevor sie ankam nicht: „Mein erster Eindruck war, dass es überall so Grün wie auf den Postkarten aussieht und, dass die Pub-Kultur tatsächlich so essentiell ist, wie es immer heißt“, erinnert sie sich. Schnell fand sie Gefallen an der offenen und positiven Grundhaltung der Menschen: „Wenn man jemanden auf der Straße begegnet, wurde oft gewunken und auch war es keine Seltenheit, per Anhalter mitgenommen zu werden“, erzählt sie von den Unterschieden zur ihrer Heimat.
Von Holzschnitzereien, Sticken und Nähen
Vorerfahrungen im Bereich Inklusion hatte die angehenden Mathematik- und Politiklehrerin nicht, aber gerade deshalb nahm sie die Chance wahr, mehr über gelebte Inklusion zu lernen. „Ich habe direkt nach dem Abitur mit 17 Jahren angefangen zu studieren und wollte vor dem Referendariat nochmal etwas mit Sinn, machen und auch etwas zurückgeben“, sagt sie. In der Uni sah sie ein Poster für den Freiwilligendienst und bewarb sich spontan. In Irland habe sie gelernt, dass man mit jedem etwas gemeinsam habe – diese Erfahrung komme oft zu kurz im Bildungssystem, findet sie.
Zu ihren Aufgaben vor Ort gehörte es, den Alltag mit den fünf Bewohnern in ihrem Haus zu teilen, gemeinsam zu kochen und Mahlzeiten vorzubereiten oder Kunst-Workshops im Atelier zu planen und durchzuführen: „Ich habe da zum Beispiel die Holzschnitzerei und das Sticken und Nähen näher kennengelernt und entdeckt, wie viel Spaß ich daran habe“, berichtet sie. Auch ein kleines wöchentliches Sportprogramm mit Aktivitäten wie Wandern oder Schwimmen gehörte dazu. Dabei lernte sie nicht nur viel über die Institution, sondern auch über das Land und die Kultur in Irland. „Insbesondere die „Teabreaks“ in der Teeküche haben mir gut gefallen und ich hatte die Chance, mit einigen Dorfbewohnern den irischen Nationalsport Hurling mal auszuprobieren“, erinnert sie sich an ihre ersten Versuche mit dem Schläger im großen Garten der Einsatzstelle.
Corona in Irland
Zu ihrem engsten Begleiter wurde in der Zeit das Fahrrad. Der Grund: Der Bus, der die 15 Kilometer ins nah gelegene Kilkenny zurücklegte, kam nur zwei Mal die Woche. An den freien Wochenenden erkundete sie das grüne County daher oft per Rad – eigentlich wollte sie zum Abschluss noch durch das Land radeln – doch dann kam Corona.
„Der Umgang mit der Pandemie war für mich total skurril, oft hatte man das Gefühl, dass wenn man raus geht, man eine Gefahr für andere ist“, erinnert sie sich an die strengen Maßnahmen. „Es gab verschiedene Phasen, in der man sich erst nur zwei, dann fünf und dann 20 Kilometer von seinem Wohnort wegbewegen durfte“, berichtet sie. Einkäufe wurden von der Vorgesetzten übernommen. „Da in der Gemeinschaft viele Menschen aus der sogenannten Risikogruppe lebten, gab es eine große Angst davor, dass das Virus dort eingeschleppt wird“, sagt Liebelt.
Nicht ohne Grund, denn genau so kam es: Die 24-Jährige und weitere Bewohner wurden positiv auf das Virus getestet und mussten im Mai zwei Wochen in Quarantäne. „Ich hatte so gut wie keine Symptome und hab es daher gar nicht gemerkt, bei einem Test kam es dann heraus“, berichtet sie von der Erkrankung. Die Zeit des dreimonatigen Lockdown sei auch deshalb sehr intensiv gewesen: „Wenn man gezwungen ist, immer mit den gleichen Personen zusammen zu sein, lernt man sehr viel über Menschen“, erinnert sie sich. Viele Aktionen fanden im heimischen Bio-Garten statt, es gab eine Baumpflanz-Aktion, Schnitzeljagden, aber auch Filmabende.
Zwischen Bereicherung und Grenzerfahrung
Natürlich gab es aber auch Schwierigkeiten: „Ich hatte immer mal wieder Mäuse im Zimmer und obwohl ich Veganerin bin, hatte ich irgendwann kein Mitleid mehr mit ihnen“, erzählt sie lachend. Auch seine Meinung zu äußern war etwas, das sie neu lernen musste: „Mir ist schnell aufgefallen, dass ich als Deutsche sehr direkt kommuniziere – da wurde man schon mal angestarrt, wenn man ehrlich war“, sagt sie. Das Zusammenleben habe sie insgesamt jedoch sehr bereichert, „aber es war auch herausfordernd – besonders wenn jemand mal wieder länger auf seiner irischen Tin Whistle geübt hat.“
Durch das Zusammenleben mit den anderen Freiwilligen habe sich auch ihr Blick auf Europa verändert: „In meiner Blase war mir vorher nicht so bewusst, wie es für Menschen mit guter Bildung ist, ihren Platz auf dem Arbeitsmarkt in der Heimat nicht zu finden“, sagt sie. Für viele ihrer Mit-Freiwilligen aus Spanien und Italien sei das ein großes Thema und Anlass für Ängste gewesen. Das ging so weit, dass diese in Irland blieben und dort Jobs annahmen. „Gut für mich“, sagt Liebelt, die sobald es die Pandemie-Situation erlaubt, zurück nach Irland will, um sie wieder zu sehen.
Lisa Brüßler im Auftrag von JUGEND für Europa
---
Weiterführende Informationen
Link: Weitere Informationen zum Euroäischen Solidaritätskorps: www.solidaritaetskorps.de