06.04.2021

Entwicklung eigener Jugendbegegnungen: Partizipative Jugendprojekte mit nachhaltiger Wirkung

Jugendliche blicken aufs Meer / Quelle: ©wir weit weg/KINDERVEREINIGUNG Leipzig e.V.

Der Verein Kindervereinigung Leipzig hat mit seinem partizipativen Jugendaustauschprojekt "wir weit weg" Schule gemacht und junge Menschen zusammengebracht, die so nicht miteinander gearbeitet hätten. Auch in Zeiten von Corona hat das Engagement nicht nachgelassen – wenn auch mit veränderten Rahmenbedingungen. Im Interview erläutert Projektkoordinatorin Babette Pohle, was die Erfolgsfaktoren von "wir weit weg" sind – und warum digitale Jugendbegegnungen besser gefördert werden müssten.

JfE: "wir weit weg" heißt euer Projekt, was ist darunter zu verstehen?

Babette Pohle: Wie ermöglichen es, Jugendlichen der siebten bis neunten Klassen an sächsischen Oberschulen (Schulen mit Haupt- und Realschulzweigen), internationale Jugendbegegnungen zu erleben und ihre eigene internationale Jugendbegegnung zu entwickeln – und das seit 2014.

Dazu werden jeweils zehn bis fünfzehn Schülerinnen und Schüler bis zu achtzehn Monate von zwei "Coaches International" (Peers der internationalen Jugendarbeit) begleitet und unterstützt.

Worum geht es im Kern?

Gemeinsam entwickeln und organisieren die Jugendlichen und die Coaches in außerschulischen Treffen die Begegnung im Ausland und entdecken Angebote der außerschulischen Bildung vor Ort. Die Teilnehmenden stärken ihr Selbstbewusstsein, finden Spaß am Lernen, erfahren Selbstwirksamkeit und erwerben verschiedene Kompetenzen. Sie lernen Methoden der demokratischen Entscheidungsfindung kennen und erproben diese.

So erfahren sie, wie sie ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse erkennen, artikulieren und dafür einstehen können. Die Coaches (meist Studierende) sammeln berufsrelevante Erfahrungen im Bereich der non-formalen, internationalen Bildung.

Wie ist die Idee für "wir weit weg" entstanden? 

Die Projektinitiatorinnen Katharina Wessel und Katharina Müller hatten beim Start des Projekts 2014 in der Praxis bereits erfahren, was die Zugangsstudie im Jahr 2019 wissenschaftlich belegte: Jugendliche, die Haupt- und Realschulen besuchen, haben tendenziell weniger Zugang zu Angeboten der internationalen Jugendarbeit. "wir weit weg" reagiert auf diese Lücke.

Wir adressieren gezielt Jugendliche an diesen Schulformen, begleiten sie über ein ganzes Schuljahr mit unserem Angebot im Nachmittagsbereich und entwickeln mit ihnen gemeinsam eine Begegnung, die ihre Wünsche und Bedürfnisse berücksichtigt. Im Anschluss an die erste Begegnung gibt es meist eine Rückbegegnung.

Was für Begegnungen sind entstanden?

Im Rahmen von "wir weit weg" haben seit 2014 bereits 13 internationale Jugendbegegnungen (bi-, tri- und multilateral) sowie eine hybride Begegnung im Sommer 2020 stattgefunden. Austausche fanden mit Jugendgruppen aus Portugal, Spanien, Italien, Norwegen, Finnland, Irland, Frankreich, der Türkei, Griechenland und Polen statt.

Die Themen der Begegnungen haben die Jugendlichen in ihren Gruppentreffen mehrheitlich selbst festgelegt. Es ging unter anderem um den Austausch von Alltagskultur, Sport, Fitness und Lifestyle, Geschichte. Es gab künstlerische Projekte, aber auch eines, welches sich im Nachgang der Geschehnisse in Chemnitz aus dem Sommer 2018 mit rechten Bewegungen in Europa beschäftigte.

Was waren die Herausforderungen bei diesen Jugendbegegnungen?

Sechs Jugendliche legen ihre Hände aufeinander. Eine junge Frau trägt ein Armband mit der Aufschrift PRIDE / Quelle: ©wir weit weg/KINDERVEREINIGUNG Leipzig e.V.Herausfordernd sind manchmal die vorbereitenden Prozesse und Entscheidungsfindungen. Wo soll es hingehen? Mit welchem Thema beschäftigen wir uns? Welche Methoden können wir unterstützend einsetzen?

Wenn die Jugendlichen in Gruppen von bis zu 15 Personen darüber diskutieren, gibt es natürlich viele verschiedene Wünsche zu berücksichtigen. Einmal war ein Teilnehmer mit einem Aufenthaltsstatus dabei, der ihm nicht erlaubt hätte, in das eigentliche Wunschland der Gruppe zu reisen – Georgien. So begann ein Entscheidungsprozess: nach Georgien ohne den betreffenden Teilnehmer oder in ein Land im Schengen-Raum mit ihm.

Die Gruppe entschied sich dafür, dass sie ihn natürlich dabeihaben will – und somit gegen das eigentliche Wunschland. Diese Situation war sehr aufreibend für die Coaches und die Projektleitung, da die Gruppe natürlich auch hätte anders – sich gegen den einen Teilnehmer – entscheiden können. Doch Situationen wie diese gehören zu partizipativen Aushandlungsprozessen dazu.

Wir sind immer wieder überrascht, dass die Jugendlichen schlussendlich an einer harmonischen Entscheidung interessiert sind, die möglichst niemanden ausgrenzt.

Was lief gut, wo bestand Verbesserungsbedarf?

Im Großen wie im Kleinen gibt es natürlich immer wieder Verbesserungsbedarf. Wir arbeiten weiterhin am Ausbau unserer Ehrenamtsausbildung. Dazu wollen wir Blended-learning-Formate entwickeln, die es den Ehrenamtlichen in Vorbereitung auf ihre Aufgaben bei "wir weit weg" – zumindest in Teilen – erlauben, sich orts- und zeitunabhängig mit bestimmten Inhalten zu beschäftigen.

Außerdem schreiben wir nach wie vor an einem Leitfaden für die Umsetzung partizipativer Jugendprojekte am Beispiel von "wir weit weg". Ein großer Teil davon steht, doch kommen immer wieder andere Dinge dazwischen und die Veröffentlichung müssen wir wohl noch ein Stück in die Zukunft verschieben.

Was hat euch besonders beeindruckt?

Immer wieder sind wir erstaunt, wenn Gruppen von Jugendlichen aus verschiedenen Ländern trotz fehlender gemeinsamer Sprachkenntnisse zusammenfinden und gemeinsam ein tolles Projekt machen. Diese Begeisterung bringen die Jugendlichen dann auch immer von ihren Reisen mit und tragen sie weiter in ihre Netzwerke. Auf diese Weise können wir wirklich etwas bewegen.

Beeindruckend ist auch, dass sich einige der Jugendlichen nach der Teilnahme am "wir weit weg"-Projekt für frei ausgeschriebene Jugendbegegnungen anmelden (von denen sie vorher vermutlich nicht erfahren hätten), sich weiterhin ehrenamtlich engagieren, das Abitur machen oder im Ausland ein Praktikum oder einen Freiwilligendienst absolvieren wollen. In Selbstreflexionen führen sie das häufig auf ihr Engagement in der "wir weit weg"-Gruppe zurück.

Führt ihr eure Partnerschaften auch in Corona-Zeiten weiter?

Wir führen alle unsere Partnerschaften auch in Corona-Zeiten weiter. Da wir uns auch vor Corona mit den Partnerorganisationen gewohntermaßen in Videokonferenzen und Messengern ausgetauscht und abgesprochen haben, ist diese Arbeitsweise nicht neu für uns.

Neu ist, dass wir die eigentlichen Begegnungen und Trainings aktuell immer zweigleisig denken (müssen). Für den Sommer 2021 planen wir zum Beispiel drei "wir weit weg"-Begegnungen und eine frei ausgeschriebene Begegnung. Auf der einen Seite organisieren wir die so, als ob die wirklich stattfinden könnten, mit allem, was dazu gehört – Reservierung von Hostels und Transport, Programm an einem gemeinsamen Ort und alle Dinge, die die Hygieneverordnungen vorsehen.

Auf der anderen Seite sind wir uns bewusst, dass die Begegnung in dieser Form möglicherweise nicht stattfinden könnte und so gibt es immer noch einen Plan B. Letztes Jahr haben wir zum Beispiel ein lokales Sommerprojekt organisiert, bei dem die Leipziger Jugendlichen eine Woche lang ganztägig (ohne Übernachtung) zu uns in die KAOS Kulturwerkstatt gekommen sind, um hier ein Programm durchzuführen, was dem einer internationalen Jugendbegegnung ähnelte.

Es fehlten die internationalen Partner vor Ort. Diese waren aber durch eine gemeinsame Fotoaktion dennoch irgendwie anwesend. Die Jugendlichen hatte trotzdem Spaß, es ist eine tolle deutsch-russische Fotoausstellung online wie analog entstanden und doch war es etwas ganz anderes, als eine klassische Begegnung zweier oder mehrerer Gruppen an einem Ort.

Wie sieht das eigentlich mit der Förderung aus? Kommt man in diesen digitalen Zeiten vielleicht sogar mit weniger Geld aus?

Ich muss sagen, der Beschluss der EU-Kommission vom Juni 2020 erschwert die Arbeit. Warum? Digitale Jugendbegegnungen werden nur noch mit 35 Prozent der Förderpauschalen und Fachkräftetrainings sogar lediglich mit 15 Prozent der Förderpauschalen finanziert. Will man anspruchsvolle und zumal partizipative internationale Jugendbegegnungen in den digitalen Raum verlegen, kostet dies unter Umständen aber sogar mehr als physische Begegnungen gekostet hätten.

Mit der Aktion "Digital100%Erasmus+" fordern wir – gemeinsam mit vier weiteren Organisationen – die EU-Kommission auf, diese Kürzungen zurückzunehmen. Wir stützen unsere Forderung auf eine Umfrage unter 40 Organisationen aus Deutschland, die ebenso davon betroffen sind (und das sind nur diejenigen, die an der Umfrage teilgenommen haben). Real betrifft das sicher alle Organisationen, die Erasmus+ zur Finanzierung von internationalen Begegnungen nutzen.

Was ist aktuell geplant?

Wir beginnen gerade unsere Arbeit in einer Strategischen Partnerschaft zur Entwicklung eines Computerspiels – zusammen mit Partnerorganisationen aus Portugal, Finnland und Griechenland und einem Start-Up aus Leipzig, welches auf Computerspielentwicklung spezialisiert ist. Das Computerspiel soll partizipative internationale Jugendarbeit abbilden und erlebbar, spielbar machen.

Lustigerweise hatten wir die Idee und die Partner dazu schon, bevor klar wurde, dass Corona wohl für längere Zeit die physische Begegnung von Jugendlichen einschränken würde. So sind wir jetzt bereits einen Schritt weiter und dieses Spiel kann in Zukunft ein ergänzendes Format zu internationalen Begegnungen werden.

Abschließend: Was ist euch persönlich wichtig bei den Jugendbegegnungen, die ihr durchführt?

Wichtig ist uns, dass sich die Jugendlichen mit ihren Wünschen und Bedürfnissen tatsächlich einbringen können. Auch, wenn die Begegnungen am Ende manchmal wie ein "Gemischtwarenladen" daherkommen – sie beispielsweise Upcycling, Animationsfilm, Austausch über den Alltag und kulinarischen Austausch vereinen und ein einheitliches pädagogisches Konzept nicht unbedingt erkennbar ist – so wissen die Jugendlichen, dass sie diese Begegnungen selbst erschaffen haben und das ist für uns ausschlaggebend. Dafür schaffen wir den Raum.

Wir kooperieren mit Schulen und unseren internationalen Partnereinrichtungen, bilden die Ehrenamtlichen aus und leben auch im (Arbeits-)Alltag Partizipation – im Kollegium, gegenüber den Ehrenamtlichen und natürlich den Jugendlichen aber auch gegenüber anderen beteiligten Gruppen. Wir versuchen, alle Beteiligten für eine partizipative Herangehensweise zu sensibilisieren, für die Tatsache, dass wir dabei immer Rücksicht auf die unterschiedlichen Logiken des Lebens und Arbeitens nehmen müssen und dass Partizipation Zeit und Geduld kostet.

Das ist eine wichtige Grundlage und auch ein Erfolgsrezept für "wir weit weg".

Das Interview führte Marco Heuer im Auftrag von JUGEND für Europa. (Fotos: wir weit weg / KINDERVEREINIGUNG Leipzig e.V. )

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Weiterführende Informationen

Allgemeine Infos zum Projekt finden Sie unter: kvleipzig-international.de/mitmachen/wir-weit-weg/

Informationen zur Aktion "Digital100%Erasmus+" finden Sie unter: kvleipzig-international.de/2021/03/22/europaeische-austauscharbeit-darf-nicht-sterben/

Digitaler Wandel ist ein Schwerpunkt in der neuen Programmgeneration von Erasmus+. Mehr Informationen finden Sie hier: www.erasmusplus-jugend.de/ueber-das-programm/digitaler-wandel/

Ein Interview mit zwei Alumni-Teilnehmenden einer "wir weit weg"-Begegnung finden Sie unter: www.jugendfuereuropa.de/news/10748-unsere-vorschlaege-wurden-demokratisch-abgestimmt/