28.04.2021

"Die Solidaritäts-Beschleuniger": Ein Stadtrundgang als Solidaritätsprojekt

Mit Solidaritätsprojekten setzen junge Menschen vor Ort ihre Ideen um und machen Europa erfahrbar. Unter dem Titel "Die Solidaritäts-Beschleuniger" haben sich junge Menschen zusammengefunden, um Neuankömmlingen mit einem Stadtrundgang den Zugang und die Teilhabe in ihrer neuen Heimatstadt zu erleichtern. Über Herausforderungen und Motivation spricht Philine Hetzer, Coach des Solidaritätsprojekts.

Frau Hetzer, „Die Solidaritätsbeschleuniger“ sind in 2019 gestartet. Coronabedingt haben Sie entschieden, es um ein Jahr zu verlängern – wo stehen Sie gerade mit dem Projekt?

Philine Hetzer: Durch die Corona-Pandemie ist natürlich alles anders als wir es uns beim Beantragen des Projekts gedacht hatten: Wir sind im September 2019 gestartet und haben vergangenen Herbst entschieden, das Projekt zu verlängern, weil es für die Jugendlichen wichtig war, sich nicht nur digital, sondern auch in Präsenz zu sehen. Neben mir als Coach besteht die Gruppe aus acht jungen Menschen zwischen 17 und 22 Jahren, die alle in Bremen leben.

Und wie hat sich die Gruppe gefunden?

Entstanden ist es aus einem internationalen Erasmus+ Jugendaustausch der vier Länder Deutschland, Irland, Spanien und Portugal, der von unserem Partner, der Hans-Wendt-Stiftung in Bremen, mit koordiniert wurde. Die Stiftung hat gezielt Jugendliche angesprochen, die sonst eher weniger Chancen haben, an solchen Begegnungen teilzuhaben. Aus jedem Land waren acht Jugendliche plus Coach dabei. Es ging dabei viel um Fragen wie: Was ist meine Community? Wer bin ich darin und was fehlt in meinem Lebenskontext vielleicht? Mit den Fragen sind die Jugendlichen zurück aus Portugal gekommen und wir haben uns gemeinsam Gedanken gemacht, was wir hier als Solidaritätsprojekt umsetzen können.

Die Jugendlichen wären sich vermutlich eher nicht zufällig z.B. in einem Bremer Jugendzentrum begegnet – ist das auch die Stärke der Gruppe?

Ja, es ist eine zusammengewürfelte Gruppe, deswegen funktioniert es aber auch so gut. Die Jugendlichen gehen noch zur Schule oder machen eine Ausbildung und kommen aus ganz unterschiedlichen Lebensumständen und Stadtteilen – nur manche kannten sich vor dem Jugendaustausch. Es gibt Jugendliche sowohl mit als auch ohne Fluchterfahrung aus verschiedenen Ländern. Es ist auch eine junge Frau dabei, die genau diesen Jugendlichen helfen will z.B. bei Behördengängen oder bei bürokratischen Fragen.

Wie haben Sie sich dann auf eine Projektidee geeinigt?

Die Ideen und die Arbeit kommen von den Jugendlichen. Erst haben wir über die Zielgruppen „Kinder“ und „ältere Menschen“ nachgedacht. Aber dann kam der Gedanke, sich an andere Jugendliche zu richten. Einige Jugendliche haben  aus ihrer eigenen Erfahrung heraus gefragt, was sie vermisst haben, als sie neu in Bremen angekommen sind und daraus ist die Idee entstanden, ein Angebot zu schaffen, mit dem anderen das Ankommen erleichtert werden soll.

Und daraus entstand der Stadtrundgang mit dem Namen „Komm, ich zeig dir Bremen!“?

Ja, ohne Pandemie wäre vielleicht noch mehr möglich gewesen, auch an Vernetzung. Aber der Rundgang ist jetzt unser Hauptprojekt und wird von den Jugendlichen selbst geleitet. Er dauert etwa zwei Stunden und läuft die wichtigsten Anlaufstellen in der Bremer Innenstadt und auch ein bisschen drum herum ab. Die Idee ist, den Zugang zur Stadt und auch zu Teilhabe zu erleichtern und Informationen verständlich zu machen. Nach einer Weile entstand die Idee, ihn nicht nur auf Deutsch anzubieten: Aktuell haben wir neben Deutsch auch Somali, Persisch im Angebot – das sind die Sprachen, die die Jugendlichen sprechen. Ziel ist, das noch auszuweiten. Wir haben zum Beispiel eine Teilnehmerin, die fließend Spanisch spricht. Dann würde das Angebot noch niedrigschwelliger und wir können noch mehr Menschen die Angst nehmen, etwas nicht zu verstehen – das war nämlich eine zentrale Rückmeldung der jungen Menschen, dass es ihnen damals gut getan hätte, Angebote in ihrer Muttersprache zu haben.

Das ist ja auch ein großer Dienst für die Stadt – wenn die Jugendlichen stellvertretend einen Schritt auf neu angekommene Menschen zu machen...

Ja, es geht darum, Brücken schlagen und mehr Selbstständigkeit zu ermöglichen, dass sich die Jugendlichen auch wie Bremer Jugendliche fühlen und das Gefühl haben, dass es auch ihre Stadt ist. Es sind nicht nur Sehenswürdigkeiten, die abgelaufen werden, sondern auch Orte wie der Sitz der Krankenkasse oder das Bürger-Service-Center, damit das auch einen langfristigen Nutzen hat für die Menschen.

Gleichzeitig geht das Angebot aber auch nach innen für die Jugendlichen, lässt sie also auch über ihre eigene Persönlichkeit reflektieren?

Ja, so begreifen sie sich als handelnde Subjekte dieser Gesellschaft! Das ist besonders wichtig, wenn etwa Jugendliche mit Fluchterfahrung, die vielleicht nicht immer freundlich aufgenommen wurden, das Gefühl entwickeln, dazu zu gehören und klar wird: Es ist eure Stadt, ihr könnt Dinge ändern und aktiv mitgestalten wie das Zusammenleben aussieht.

Wie muss man sich den digitalen Stadtrundgang genau vorstellen?

Wir haben Texte geschrieben, übersetzt, uns über die Route Gedanken gemacht und damit auch Medienkompetenzen aufgebaut. Für das erste Video, das auf Somali ist, sind wir alle einzelnen Stationen abgelaufen und die Jugendlichen haben auf Orte, wie etwa die Bremer Stadtmusikanten, gezeigt. Das habe ich mit der Kamera eingefangen und wir haben es zusammengeschnitten. Jetzt fehlt noch die Tonspur mit kurzen Erklärblöcken aus Sicht der Jugendlichen, also zum Beispiel was die Stadtmusikanten genau sind und warum man an die Füße des Esels fassen sollte.

Für Sie war es auch das erste Mal als Coach – was haben Sie denn gelernt bislang?

Für mich hat sich gezeigt, dass eine Niedrigschwelligkeit, wie ich sie mir wünschen würde, noch nicht vorhanden ist und, dass manche jungen Menschen sehr schnell ausgeschlossen sind, wenn es nicht Coach und Partnerorganisationen geben würde. Es braucht zum Beispiel noch mehr Unterstützung in den Formulierungen bei der Antragstellung: Was bedeutet der Begriff Solidarität? Man braucht viel Zeit, um zu erklären und zu gucken, ob die jungen Menschen das auch verstanden haben.

Auch lerne ich ganz viel über die Biographien der Jugendlichen – das zeigt mir gut auf, wo es gesellschaftliche Defizite gibt, die Jugendliche erfahren und wie sie trotzdem damit fertig werden, z.B. was Diskriminierungserfahrungen angeht, die nicht sichtbar sind, wenn man sie selbst nicht erlebt und die die Jugendlichen oft auch gar nicht benennen würden, weil es für sie meist Teil ihres Alltags ist.

Sollen diese Erfahrungen auch noch für andere sichtbar gemacht werden in Bremen?

Als wir aus Portugal kamen und den Antrag geschrieben haben, hatten wir die Idee, an verschiedenen Festen und Veranstaltungen von anderen Bremer Organisationen teilzunehmen, um die Erfahrungen mit anderen Gruppen zu teilen – das geht jetzt momentan nicht. Die Jugendlichen haben untereinander Kontakt und helfen sich gegenseitig, das passiert inzwischen ganz unabhängig vom Solidaritätsprojekt. Von daher bin ich positiv gestimmt, dass die Gruppe so fest verbunden ist, dass sie da am Ball bleiben – auch mit der Aussicht auf weitere Jugendaustausche, die ja auch verschoben werden mussten.

Das Interview führte Lisa Brüßler im Auftrag von JUGEND für Europa. (Fotos: Philine Hetzer)

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Weiterführende Informationen

Antragsfrist: Bis zum 28. Mai 2021 können Anträge für Solidaritätsprojekte gestellt werden: www.solidaritaetskorps.de/mitmachen/solidaritaetsprojekte/

Partizipation am demokratischen Leben ist eine Programmpriorität im Europäischen Solidaritätskorps: www.solidaritaetskorps.de/ueber-das-programm/partizipation/