14.10.2021
"Wir brauchen eine interkulturelle Öffnung in ganz vielen Bereichen"
Plötzlich muss man sich mit Traumaverarbeitung, Behördenbriefen oder dem Bleiberecht auseinandersetzen: Personen, die junge Geflüchtete unterstützen, bewältigen viele Herausforderungen. JUGEND für Europa lud haupt- und ehrenamtliche Fachkräfte ein, sich über ihre Arbeit mit der Zielgruppe auszutauschen. Kristina Stuhrmann leitete diesen Workshop. Sie weiß: Genauso wichtig, wie neue Lösungsansätze zu entwickeln, ist es, die eigenen Grenzen respektieren zu lernen.
Ein Blick zurück: 2017 startete das europäische Netzwerkprojekt "Becoming a part of Europe", welches von acht europäischen Erasmus+ Agenturen im Jugendbereich (darunter JUGEND für Europa) durchgeführt wurde. Im Mittelpunkt stand die Frage, welchen Beitrag die Jugendhilfe bzw. Jugendarbeit zur Integration von jungen Migrant*innen, Geflüchteten und Asylbewerber*innen leisten und wie die europäische Zusammenarbeit die entsprechenden Prozesse unterstützen kann.
Nach Abschluss des Projekts mit der Veröffentlichung von Politikempfehlungen konzipierte JUGEND für Europa 2019 die nationale Workshop-Reihe "Arbeit mit Geflüchteten, Migrant*innen und Asylbewerber*innen".
Neue Ressourcen und Hilfestellungen für die praktische Jugendarbeit
Geleitet wurden die einzelnen Veranstaltungen von den Trainerinnen Perdita Wingerter und Kristina Stuhrmann. Mit Kristina Stuhrmann sprachen wir über die gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse aus der Workshop-Reihe, die Ende 2020 coronabedingt in den digitalen Raum verlegt werden musste.
JfE: Kristina, kannst du uns kurz die Ziele und die Ideen eurer Workshop-Reihe beschreiben?
Kristina Stuhrmann: Mit der Workshop-Reihe wollten wir Ressourcen und Hilfestellungen für die praktische Jugendarbeit mit jungen Migranten, Geflüchteten oder Asylbewerber*innen geben. Unser Ziel war, die Organisationen und Personen, die mit der Zielgruppe arbeiten, zu unterstützen. Wir wollten ihren fachlichen Austausch fördern und ihnen die Möglichkeit geben, neue Ideen und Ansätze im Austausch voneinander kennenzulernen.
Wir haben die Veranstaltungen Ende 2019 geplant und begonnen, sie 2020 umzusetzen. Dann kam Corona und wir mussten umplanen. Wir haben die Pandemie-Situation in die Umsetzung der Workshops einbezogen.
Die Teilnehmenden konnten sich dadurch auch über die aktuellen Herausforderungen in Zeiten von Corona austauschen, von den Erfahrungen anderer profitieren und Lösungsansätze entwickeln.
Wie viele Trainings habt ihr insgesamt angeboten?
2020 waren ursprünglich acht Trainings geplant, von denen wir drei Trainings in Präsenz durchgeführt haben. Im Herbst 2020 kam die nächste Corona-Welle und wir haben uns entschlossen, ein Online-Training zu konzipieren. 2021 haben wir drei Online-Trainings durchgeführt. Also im Februar, im März und jetzt im September das letzte.
Habt ihr zwischen den Präsenz- und den digitalen Trainings einen Unterschied bemerkt, was den Austausch der Teilnehmenden untereinander anbelangt?
Der Vorteil von digitalen Veranstaltungen ist, dass manches bei der Organisation einfacher und auch kostengünstiger ist. Außerdem konnten bei unseren digitalen Trainings viel mehr Personen aus unterschiedlichen Gegenden zusammenkommen; von daher war ein deutschlandübergreifender Austausch möglich.
Aber natürlich fehlt bei digitalen Veranstaltungen die informelle Zeit, wenn man zum Beispiel abends noch zusammensitzt. Und es ist anstrengend so lange vor dem PC zu sitzen. Daher haben wir die digitalen Trainings auch inhaltlich gekürzt. Trotzdem haben die Teilnehmenden immer rückgemeldet, dass sie sehr erstaunt waren, wie gut der Austausch geklappt hat.
Daher haben beide Formate ihren Charme und ihre Nachteile. Ich habe nur den Eindruck, dass momentan eine gewisse Online-Müdigkeit herrscht.
Die Sehnsucht nach Präsenzveranstaltungen ist sicherlich riesig. Digitale Veranstaltungen und Fortbildungsangebote werden aber bleiben. Ist es ein genereller Vorteil von digitalen Veranstaltungen, dass die Teilnahme einfacher ist?
Wenn ich die Zielgruppe Geflüchtete betrachte, muss man dabei bedenken, dass digitale Angebote auch eine Hürde darstellen können. So kann es zum Beispiel sein, dass Asylbewerber*innen innerhalb einer Gemeinschaftsunterkunft keinen DSL-Vertrag abschließen dürfen und sie dadurch keine Internetverbindung haben. Oder ein junger Geflüchteter besitzt gar keinen Laptop und müsste alles über sein Handy machen, was ja auch schwierig ist und wodurch das Datenvolumen schnell aufgebraucht wird. Manches Problem lässt sich auch nicht so leicht digital lösen, da ist es dann doch einfacher über den persönlichen Kontakt. Also, digitale Angebote sind nicht für alle gleich zugänglich.
Stichwort: Erfahrungen. Mich würde interessieren, von welchen Erfahrungen haben die Teilnehmenden in den Workshops berichtet? Von welchen Erfahrungen hast du häufiger gehört? Gab es etwas, was dich selber überrascht hat?
Zuerst muss ich sagen, dass ja ganz unterschiedliche Fachkräfte zusammenkamen: hauptamtliche wie ehrenamtliche. Wir haben Teilnehmer*innen gehabt, die primär aus der Arbeit mit der Zielgruppe gekommen sind, aber auch Fachkräfte, die vor allem in der Kinder- und Jugendarbeit aktiv sind. Die Teilnehmenden hatten mitunter ganz unterschiedliche Themenstellungen, weil es unterschiedliche Erfahrungen sind, die sie machen.
Aber es gibt schon die großen Themen, wie zum Beispiel "Traumaverarbeitung". Wie kann ich erkennen, dass sich jemand in einem Schockzustand befindet? Wo bringt man so eine Person am besten unter, denn Therapieplätze sind rar in Deutschland und erst recht, wenn es sich um die Zielgruppe der Geflüchteten handelt. Und natürlich kommt die Sprachbarriere dazu, die die Arbeit mit jungen Geflüchteten, Migrant*innen, Asylbewerber*innen entsprechend beeinflusst.
Oftmals wird man zu einer Vertrauensperson für die jungen Menschen, zu der sie dann mit ganz vielen Anliegen kommen, zum Beispiel mit Schreiben von Behörden, die einen hohen bürokratischen Aufwand mit sich bringen. In Zeiten von Corona waren dann noch viele Behörden für den Besuchsverkehr geschlossen und nur schlecht telefonisch erreichbar, was die Situation zusätzlich erschwert hat. Unabhängig von der Pandemie sind viele Behörden nicht interkulturell geöffnet oder haben Diversity Management noch nicht etabliert, sodass junge Migrant*innen, Asylbewerber*innen oder Geflüchtete oft mehrmals an andere Stellen weiterverwiesen werden. Neben komplexen Verwaltungsvorgängen stellt auch das "Beamtendeutsch" eine zusätzliche Barriere für die Zielgruppe dar.
Es gibt zudem interkulturelle Themen und teilweise auch Konflikte. Man muss sich außerdem plötzlich mit aufenthaltsrechtlichen Problematiken befassen. Die Bleibeperspektive ist oft ungewiss und wenn der Brief mit der Ablehnung des Asylgesuchs kommt, ist dies für eine*n Asylbewerber*in eine enorme psychische Belastung. Man muss sich auch manchmal damit auseinandersetzen, dass ein junger Mensch plötzlich nicht mehr zu den Angeboten kommt, weil er abgeschoben wurde. Solche Situationen und auch die Schicksale einzelner Menschen können auch für Haupt- und Ehrenamtliche sehr belastend sein und es ist wichtig, Selbstfürsorge zu betreiben. Im Training haben wir auch speziell dazu Übungen gemacht.
Außerdem haben wir uns mit unserer Rolle und den damit verbundenen Aufgaben beschäftigt und einen Blick darauf geworfen, wo die Grenzen unserer Zuständigkeit liegen. Ein junger Ehrenamtlicher hat zum Beispiel berichtet, er habe in der Nacht vor seinem Matheabitur einen Anruf von einem befreundeten Geflüchteten erhalten, den er regelmäßig unterstützt. Ein Telefonat mit seiner Familie hatte viele negative Gefühle in ihm ausgelöst und da es ihm sehr schlecht ging, fuhr der Ehrenamtliche noch in der Nacht zu ihm, um ihm beizustehen und setzte damit seinen Abschluss aufs Spiel. Dieses Beispiel ist natürlich besonders krass. Aber es zeigt, dass es oft schwierig ist, für sich zu definieren, bis wohin die Unterstützung reicht und ab wann man für sich die Grenze zieht, um sich selbst nicht zu überlasten und an andere Fachkräfte und Stellen zu verweisen und diese Haltung auch mit gutem Gewissen zu vertreten.
Daher haben wir den Umgang mit Grenzen bewusst im Workshop thematisiert. Wie kann man bei der Arbeit mit der Zielgruppe die eigenen Grenzen besser einschätzen? Wie kann man mit schwierigen Situationen besser umgehen? Wie kann man neue Kraft in herausfordernden Zeiten schöpfen? Wir wollten mit unserer Workshop-Reihe empowern und ermutigend sein.
In der Zeit des Lockdowns waren die erschwerten Kontaktbedingungen natürlich auch ein Thema. Wie lässt sich der Kontakt zu der Zielgruppe halten? Aber auch, wie kann man dafür sorgen, dass der junge Mensch in der Schule mithalten kann? Wie kann seine Teilhabe gewährleistet werden? Und ganz aktuell: Wie kann man für die Corona-Impfung sensibilisieren? Wie kann man gegen verbreitete Fake News zum Thema Impfen argumentieren?
Was du anreißt, sind ja ganz komplexe Herausforderungen für die Menschen, die sich in dem Bereich engagieren. Heißt aber auch, Kinder- und Jugendarbeit ist ein ganz elementarer Bestandteil von Integrationsarbeit?
Ja, das würde ich sagen. Oft wird ein vertrauensvolles Verhältnis zu Fachkräften der Kinder- und Jugendarbeit aufgebaut. Ein Jugendhaus ist beispielsweise eine Anlaufstelle, von der Kinder und Jugendliche wissen, dass sie dort willkommen sind und Unterstützung finden. Das gibt ihnen Sicherheit und Halt. Je nachdem, in welcher Unterkunft jemand lebt, kann es auch ein Ausbruch aus einem beengten Wohnverhältnis sein. Dann bleibt man lieber noch länger in der Schule oder im Jugendhaus, statt in die Gemeinschaftsunterkunft zurück zu gehen.
Kinder- und Jugendarbeitet bietet Ablenkung und Beschäftigung, fördert Kontakte und damit auch Sprachkenntnisse. Man kann Neues kennenlernen und nebenbei erfolgt eine gewisse Kultur- und Wertevermittlung. Damit ist die Kinder- und Jugendarbeit für diese Zielgruppe ein wichtiger Faktor und sollte auf jeden Fall weiter beibehalten werden. Darüber hinaus sollten möglichst niedrigschwellige Zugänge zu ihr geschaffen werden.
Und trotzdem ist klar: Alles kann Jugendarbeit dann auch nicht leisten.
(lacht) Ja. Natürlich kann Jugendarbeit nicht alles leisten, aber sie ist ein wichtiger Faktor für die Integration. Auch die Angebote präventiver Bildungsarbeit und Menschenrechtsbildung, die ich nebenberuflich durchführe, leisten einen wichtigen Beitrag zur Sensibilisierung von Kindern und Jugendlichen.
Du hast interkulturelles Lernen angesprochen. In wie weit können Angebote der internationalen Jugendarbeit für die Zielgruppe junge Geflüchtete weitere hilfreiche Erfahrungen vermitteln?
Also auf der einen Seite sind dies natürlich immer Erfahrungen, um über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, anderen Menschen zu begegnen und bestehende Sichtweisen zu hinterfragen und zu erweitern. Problematisch sehe ich dabei aber, dass Geflüchtete unterschiedliche Aufenthaltsstatus haben und gegebenenfalls eben nicht aus Deutschland ausreisen dürfen, z.B. Geduldete oder Asylbewerber*innen während Ihres laufenden Asylverfahrens.
Daher müsste eine Zugangsgerechtigkeit geschaffen werden. Zum Beispiel, dass die Angebote innerhalb von Deutschland stattfinden, sodass alle, die wollen, daran teilnehmen könnten. Das schmälert natürlich den Reiz, weil es ja etwas Anderes ist, zu vereisen und einen anderen Ort kennenzulernen. Aber das wäre eine Möglichkeit, internationale Angebote wahrzunehmen und Menschen aus anderen Ländern kennenzulernen.
Zum Schluss: Was wären aus deiner Sicht die drei wesentlichen Dinge, die du dir wünschen würdest zum Gelingen von erfolgreicher sozialer Integration?
Eine schwierige Frage. Integration ist immer ein wechselseitiger dynamischer Prozess. Menschen kommen aus unterschiedlichen Gründen zu uns, weil sie bessere Lebensverhältnisse suchen, wie zum Beispiel Frieden und Freiheit. Sie wollen überleben oder sind in finanzieller Not. Sie kommen nach Deutschland, weil sie die Hoffnung haben, diese Träume hier besser verwirklichen zu können als in ihrem Herkunftsland. Die Frage ist immer, welches Integrationsverständnis wir als Aufnahmegesellschaft haben. Geht es um Assimilation der Neuankömmlinge oder geht es eher um Inklusion; also, dass man unser System so verändert, dass eben alle die gleichen Chancen, Rechte und Zugangsmöglichkeiten haben. Dafür müssen wir auch aufeinander zugehen und uns gegenseitig entgegenkommen. Aber dieser Prozess kostet viel Zeit.
Daher ist es, wie ich finde, wichtig, dass wir möglichst jetzt schon so gut es geht versuchen, Chancengleichheit und möglichst gleichberechtigte Teilhabe zu schaffen, Diskriminierung zu verhindern und Zugangsbarrieren abzubauen. Dies setzt eine interkulturelle Öffnung bzw. diversitätsorientierte Organisationsentwicklung oder die Umsetzung von Diversity Management in Organisationen, bei Kinder- und Jugendhilfeträgern, Behörden, ja eigentlich in der gesamten Gesellschaft voraus.
Dies würde dazu führen, dass die gesellschaftliche Diversität nicht nur vereinzelt, sondern überall abgebildet und Vielfalt wertgeschätzt und strukturelle Diskriminierung abgebaut werden würde. Das sind wichtige Prozesse, damit die Menschen sich hier willkommen und nicht nur geduldet fühlen. Es ist wichtig, dass wir als Aufnahmegesellschaft sie nicht nur als Dauergäste und in der Rolle der Geflüchteten und Migrant*innen sehen, sondern dass sie wirklich das Gefühl haben, hier dazuzugehören. Sie sind mehr als nur Geflüchtete und wollen eben nicht nur auf diese Facette ihrer Persönlichkeit reduziert werden.
Letztendlich ist es wichtig, dass die Menschen sich nicht ausgegrenzt, sondern integriert fühlen.
Vielen Dank für das Gespräch!
(JUGEND für Europa / Fotos: privat)
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Weiterführende Informationen
Die Workshop-Reihe wurde geleitet von Kristina Stuhrmann und Perdita Wingerter.
Kristina Stuhrmann ist Sozialarbeiterin und Trainerin der Jugend- und Erwachsenenbildung. Als Integrationsmanagerin unterstützt sie Geflüchtete und Asylsuchende bei ihrem Integrationsprozess und berät sie als Case Managerin zu verschiedenen Themen. Darüber hinaus gibt sie Fortbildungen mit den Schwerpunkten Integration, Antirassismus, Anti-Hate Speech, Diversität sowie psychische Gesundheit/Wohlbefinden und lehrt Soziale Arbeit und Diversity an einer Fachhochschule.
Perdita Wingerter ist Geschäftsführerin und Gründerin der NGOs "Gemeinsam leben & lernen in Europa" und hat eine eigene Beratungsagentur. Als seit über 30 Jahren aktive Ehrenamtliche fördert sie auch das Ehrenamt auf vielfältige Weise: Innerhalb ihrer Organisation "Gemeinsam leben & lernen in Europa" initiierte und koordinierte sie viele ehrenamtlich geführte Projekte auf nationaler und internationaler Ebene, insbesondere mit jungen Freiwilligen. Durch Schulungen, Coachings und andere Möglichkeiten hat sie Hunderte von jungen Menschen befähigt, nicht nur Freiwillige, sondern auch aktive Bürger*innen zu werden. In den letzten Jahren haben viele der Freiwilligenprojekte, die sie initiiert hat, die Jugend gestärkt. Für ihre Arbeit wurde die Organisation vielfach ausgezeichnet, z.B. mit dem "Bürgerpreis" des Europäischen Parlaments oder dem "Active Citizens of Europe Award".