27.06.2022
Hürden abbauen und Herausforderungen praktisch begegnen: Inklusion ist kein Mehraufwand
Die Leitaktion 2 im EU-Programm Erasmus+ Jugend eröffnet Organisationen Wege, auf gesellschaftliche Bedarfe und Herausforderungen zu reagieren. Die Partnerschaft "Inspired by Inclusion" hat diese Möglichkeit genutzt und ein Methodenhandbuch zur inklusiven Gestaltung von Seminaren sowie ein Handbuch zur inklusiven Trainer*innen-Ausbildung entwickelt. Im Interview erläutern die beteiligten Organisationen, wie es zur Zusammenarbeit kam und wie die Handbücher entwickelt wurden.
2019 haben sich die Organisationen bezev e.V., WeltWegWeiser, Grenzenlos, IN VIA Köln e.V. und Neo Sapiens S.L.U aus Deutschland, Österreich und Spanien zusammengefunden, um die Strategische Partnerschaft (seit 2021 Kooperationspartnerschaften) "Inspired by Inclusion" zu gründen.
JUGEND für Europa: Was war das Ziel der Strategischen Partnerschaft "Inspired by Inclusion"?
WeltWegWeiser: Der Ausgangspunkt von “Inspired by Inclusion” war die Tatsache, dass Menschen mit Beeinträchtigungen und Benachteiligungen als Teilnehmende in internationalen Begegnungen und Freiwilligeneinsätzen unterrepräsentiert sind. Wir wollten daran was ändern.
Bezev e.V.: Wir wollten Wege aufzeigen, wie Menschen mit geringeren Chancen in der pädagogischen Vorbereitung oder Begleitung mitgedacht werden können. Schon durch wenige Anpassungen können Begleitseminare barrierefreier umgesetzt werden. Wir haben daran gearbeitet, Methoden für Seminare von Freiwilligen anzupassen und so zu entwickeln, dass niemand ausgeschlossen wird und alle im gleichen Maße profitieren.
Neo Sapiens S.L.U: In Spanien und auf EU-Ebene gibt es außerdem einen großen Mangel an Trainer*innen mit Beeinträchtigungen oder Benachteiligungen. Einerseits trägt dies zur Unsichtbarkeit dieser Gruppen bei, andererseits erschwert es die Organisation passender Schulungen oder Sensibilisierungsmaßnahmen. Das Hauptziel des Projekts in unserer Einrichtung bestand nicht nur darin, diesen Gruppen eine Stimme zu geben, sondern sie dazu zu befähigen, selbst Trainer*innen zu werden und ihnen gleichzeitig dabei individuelle Vorteile und Autonomie zu verschaffen (in persönlicher und beruflicher Hinsicht).
Darüber hinaus waren die Entwicklung angepasster Methoden und die Erforschung des Universellen Lerndesign-Ansatzes (UDL) ebenfalls eine Priorität, um neue Zugänge an transnationalen und interkulturellen Projekten zu schaffen.
Wie ist die Idee des Projekts entstanden?
bezev e.V.: bezev bietet seit vielen Jahren inklusive internationale Freiwilligendienste sowie Schulungen und Beratungen zu dem Thema für andere Organisationen an. So ist der Kontakt zu WeltWegWeiser und die Idee für das Projekt entstanden. Bei einem Treffen in Essen im April 2019 wurde es dann konkreter.
WeltWegWeiser: In Essen waren wir uns einig, dass Unterstützungsbedarfe von Teilnehmenden in der Konzeption von Methoden übersehen werden. Sie sind zwar oft partizipativ, aber eben nicht inklusiv und damit nicht barrierefrei. Dazu kam, dass Trainer*innen, die selbst eine Beeinträchtigung haben oder Benachteiligung erfahren, fehlen.
Neo Sapiens S.L.U.: Wir hatten bereits mit Grenzenlos zusammengearbeitet. Wir haben an der Projektskizze mitgewirkt, mit dem Ziel, neue Lernmaterialien zu erstellen, die auch für die Förderung von Jugendarbeiter*innen und benachteiligten Jugendlichen geeignet sind, mit denen wir in La Rioja arbeiten (hauptsächlich mit Migrationshintergrund oder mit sozialen, wirtschaftlichen und bildungsbezogenen Herausforderungen).
Haben Sie in der Zusammenarbeit mit den europäischen Partnern Unterschiede hinsichtlich der Wahrnehmung von Beeinträchtigungen / Inklusion festgestellt?
bezev e.V.: Wir haben keine Unterschiede in der Wahrnehmung von Beeinträchtigung festgestellt, die sich auf den Sitz der Organisation in einem anderen europäischen Land zurückführen lassen würden. Am Projekt haben Organisationen bzw. Mitarbeitende mit viel und weniger praktischer Erfahrung mit Menschen mit Beeinträchtigung mitgewirkt. Dies hat anfangs zu Unterschieden in der Wahrnehmung von Beeinträchtigung geführt. Dafür haben Organisationen mit weniger Erfahrung mit Menschen mit Beeinträchtigung ihre Expertise mit anderen Zielgruppen geteilt.
Neo Sapiens S.L.U.: Es gab keine große Überraschung, aber es war durchaus eine Herausforderung, Materialien zu erstellen, die für viele verschiedene Gruppen geeignet sind, und zu testen, welcher Ansatz am besten funktioniert.
Ergebnisse Ihrer Strategischen Partnerschaft sind u.a. zwei Methoden-Handbücher; ein Methoden-Handbuch für die inklusive Gestaltung von Seminaren und ein Handbuch zur inklusiven Trainer*innen-Ausbildung. Man könnte meinen, dass es Methoden-Handbücher zu genüge gibt. Was macht diese Outputs besonders und wo liegt der Mehrwert für Fachkräfte der Jugendarbeit?
Bezev e.V.: Leider machen wir häufiger die Erfahrung, dass Mitarbeiter*innen in der internationalen Jugendarbeit bzw. in Freiwilligendiensten mit Inklusion vor allem Mehrarbeit verbinden. Sie haben Angst, dass sie ganz viel Wissen und Zeit brauchen, um Seminare inklusiv zu gestalten. Das Methodenhandbuch “Seminare inklusiv gestalten“ verstehen wir als ein niedrigschwelliges Angebot an Fachkräfte. Wir haben überwiegend mit in der internationalen Jugendarbeit bereits bekannten Methoden gearbeitet und geben praktische Tipps und Tricks für die inklusive Seminargestaltung.
IN VIA Köln e.V.: Das Methodenhandbuch kann als Empowerment für Fachkräfte verstanden werden und als Nachschlagewerk, in dem einfach erklärt Zugänge und praktische Herangehensweisen auf Fragen rund um inklusive Seminararbeit gegeben werden.
WeltWegWeiser: Die Unterstützungsbedarfe von Teilnehmenden und mögliche Barrieren werden oft nicht ausreichend bedacht. Dadurch können Methoden ausgrenzend wirken. Die Sensibilisierung für Unterstützungsbedarfe in den Bereichen Hören, Sehen, Motorik und Komplexität ist daher wichtig, weil sie dazu beiträgt Ausgrenzungsmechanismen abzubauen. Ergänzend zum Methodenhandbuch gibt es auch Video-Tutorials, in denen vier Methoden leicht verständlich erklärt werden.
Grenzenlos: Das Handbuch für Trainer*innen bietet Leitlinien und Motivation für künftige Trainer*innen, die zu den Menschen mit geringeren Chancen gehören. Es führt durch den Lernprozess, beginnend mit der Frage, warum es wichtig ist, Trainer*in zu werden, bis hin zu den Fähigkeiten und Kompetenzen, über die die Person bereits verfügt und die sie bei der Erreichung ihres Ziels unterstützen werden. Das Handbuch gibt auch Hinweise darauf, was berücksichtigt werden soll, wenn Workshops oder 5-tägige Trainings konzipiert werden.
Alle Kapitel sind so geschrieben, dass sie Leser*innen ansprechen und sie durch verschiedene Aktivitäten dazu bringen, sich auf den Lernprozess einzulassen. Wir können nicht behaupten, das Handbuch in Leichter Sprache geschrieben zu haben, aber es wurde so einfach wie möglich gemacht.
Neo Sapiens S.L.U.: Das Handbuch für Trainer*innen enthält mehrere Innovationen. Erstens handelt es sich um ein Thema, das noch nicht eingehend erforscht ist - tatsächlich gibt es auf EU-Ebene keine genauen Untersuchungen oder Daten über die Anzahl der tatsächlich aktiven Trainer*innen mit geringeren Chancen. Zweitens ist das Material so geschrieben, dass es Menschen mit Lernschwierigkeiten das Verständnis erleichtert.
Leser*innen werden die sehr technischen Begriffe und Prozesse im Zusammenhang mit der Konzeption und Organisation von Trainingskursen zugänglich gemacht. Darüber hinaus unterscheidet das Handbuch die Zielgruppen nicht nach ihren physischen Merkmalen, sondern nach ihren Lernstilen, wobei es ihre Individualität und ihre multiplen Intelligenzen berücksichtigt. Es bietet gleichzeitig Vorlagen, Tipps und einfache Anleitungen für die Gestaltung von Aktivitäten, die nicht auf Inklusion, sondern dank des UDL-Ansatzes (Universal Design for Learning) auf der vollen Beteiligung aller Teilnehmer*innen basieren.
Wie sind diese Handbücher entstanden und erprobt worden?
IN VIA Köln e.V.: Für das Methoden-Handbuch zur inklusiven Seminargestaltung haben wir zunächst Themenbereiche identifiziert, die für die Vorbereitung von Teilnehmenden in Auslandsaufenthalten wichtig sind. Relevante Themenblöcke waren dabei z.B. Kommunikation und Konflikte, Diversity, Globales Lernen, Kultur, Reflexionsmethoden etc.
WeltWegWeiser: Wir haben anschließend viele verschiedene und bereits erprobte Methoden zusammengetragen. In einem weiteren Schritt haben wir überlegt und diskutiert, welche Methoden für eine inklusive Umsetzung passen könnten bzw. welche noch entwickelt werden müssen. Wir haben dabei schnell festgestellt, dass keine Methode von sich aus barrierefrei ist. Dabei konnten wir auch ausmachen, welche Hindernisse und Barrieren es für unterschiedliche Unterstützungsbedarfe gibt.
Bezev e.V. : Die Erprobung der Methoden sollte bei einem gemeinsamen Treffen aller Organisationen in Deutschland von einer inklusiven Gruppe erfolgen. Ein gemeinsames Treffen mit Teilnehmenden aus verschiedenen Ländern war aber aufgrund der Corona-Pandemie nicht möglich.
Die Methoden wurden also parallel von inklusiven Gruppen in Deutschland, Österreich und Spanien erprobt. Da wir keine Methoden für digitale Seminare entwickelt haben, war es uns wichtig, die Methoden in Präsenz zu testen. Wir haben uns zwischen den Gruppen immer wieder digital ausgetauscht und in digitalen Formaten Feedback eingeholt. Im Anschluss haben wir das Feedback in die Methodenanleitungen eingearbeitet. Durch das wertvolle Feedback konnten weitere Barrieren abgebaut werden.
Neo Sapiens S.L.U.: Das Handbuch für Trainer*innen wurde in einem transnationalen Schulungskurs in Spanien erprobt, bei dem Teilnehmer*innen mit unterschiedlichem Hintergrund und aus allen Projektländern zusammenkamen. Darüber hinaus wurden die Inhalte von verschiedenen Korrekturleser*innen aus den Projektzielgruppen und Fachleuten überarbeitet. Schließlich wurde ein spezielles Grafikdesignteam (bestehend aus Designer*innen und Mitarbeiter*innen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen) beauftragt, das Material zu vervollständigen und auf seine Eignung zu überprüfen.
Wie ist die Resonanz bisher?
WeltWegWeiser: Wir freuen uns, über eine große Resonanz zu unseren inklusiven Bildungsmaterialien. Besonders erfreulich ist, dass das Interesse über unser Netzwerk der internationalen Jugendarbeit hinausgeht. Wir hatten bereits Bestellungen aus dem Schul- und Universitätsbereich, der Bildungsberatung, auch viele Organisationen, die im Inklusionsbereich arbeiten, haben Interesse an den Materialien gezeigt.
Bezev e.V. : Wir haben bei einem Multiplikator*innen Workshop sehr positive Resonanz zu den entwickelten Methoden bekommen. Die Teilnehmenden fühlten sich ermutigt, die Methoden auszuprobieren und einige Teilnehmende waren so begeistert, dass sie in ihren eigenen Netzwerken nun Werbung für die Methodenhandbücher machen.
Neo Sapiens S.L.U.: Das auf lokaler Ebene und insbesondere während der Multiplikatorenveranstaltungen gesammelte Feedback war sehr positiv. Der komplementäre Ansatz der beiden Outputs wurde sehr geschätzt, ebenso wie die Tatsache, dass Materialien geschaffen wurden, die ausgrenzungsgefährdeten Jugendlichen eine führende Rolle in ihren Kreisen geben könnten. Die entwickelten Methoden wurden auch von den Pädagog*innen, mit denen Neo Sapiens zusammenarbeitet, als Alternative für die Ausbildung ihrer Jugendlichen in internationalen Praktika und Freiwilligenprojekten begrüßt. Auch die Einführung des UDL-Ansatzes wurde von vielen Teilnehmenden als innovativ hervorgehoben.
Und wie geht es weiter mit der Partnerschaft?
bezev e.V.: Wir sind sehr glücklich über die gute Zusammenarbeit und die vielen Erfahrungen, die wir gemeinsam sammeln durften. Für bezev war es das erste Projekt im Rahmen einer Strategischen Partnerschaft. Wir hoffen, dass aus der Kooperation noch weitere Projekte folgen.
Neo Sapiens S.L.U.: Vielleicht kann eine Fortsetzung des Projekts erfolgen. Es gibt noch viele Themen und Tools, die entwickelt werden können wie z. B. eine Online-Plattform für die Vorbereitung der Freiwilligen, persönliche Schulungen vor Ort für Trainer*innen mit geringeren Chancen…
(JUGEND für Europa)
Weiterführende Informationen
Projektwebsite (mit Download der Handbücher und Videotutorials): https://www.weltwegweiser.at/inklusion/inspired-by-inclusion/