29.08.2022
"Der Bonn-Prozess ist Teamwork"
Ein Gespräch mit Elke Führer und Alicia Holzschuh von JUGEND für Europa über die neue Europäische Servicestelle für den Bonn-Prozess und die Bedeutung der Community of Practice.
JfE: Seit 2020 gibt es nun die European Youth Work Agenda und ihre Umsetzung im Bonn-Prozess. Es ist also Zeit einmal genauer zu beleuchten, wie JUGEND für Europa diesen europäischen Prozess zur Stärkung und Weiterentwicklung von Youth Work unterstützt. Aber vorweg eine Frage: Was ist mit “Youth Work” eigentlich genau gemeint?
Alicia Holzschuh: Der Begriff Youth Work stammt aus der europäischen Fachdebatte und geht über das deutsche Verständnis von Jugendarbeit im Sinne des § 11 SGB VIII hinaus. Vielmehr bezieht sich Youth Work auf ein sehr breites Spektrum sozialer, kultureller und bildungspolitischer Aktivitäten von, mit und für junge Menschen. Es gehören also die Bereiche der Jugendarbeit, Jugendverbandsarbeit, Jugendsozialarbeit und Jugendbildungsarbeit ausdrücklich dazu! All diese Bereiche sollen durch den Bonn-Prozess den Rücken gestärkt bekommen.
Was bedeutet der Bonn-Prozess für dieses weite Feld von Youth Work und wie kam es dazu?
Elke Führer: Der Bonn-Prozess ist zunächst einmal eine große Chance für alle Akteur*innen, die in und für Youth Work aktiv sind – also die Youth Work Community of Practice von dem Jugendarbeiter und dem jungen Menschen über die Jugendorganisation, Kommunalverwaltung oder die Nationale Agentur bis hin zur Forscherin oder politischen Entscheidungsträgerin.
Noch so ein wichtiger Begriff aus der europäischen Fachdebatte.
Elke: Ja, genau. Für viele Menschen, die schon länger im Bereich Youth Work tätig sind, war 2020 ein einzigartiger und kraftvoller Moment für das Arbeitsfeld in Europa. Und gleichzeitig kam dieser Moment nicht aus dem Nichts.
Die European Youth Work Agenda und ihre Geburtsstunde des Bonn-Prozesses bei der 3rd European Youth Work Convention konnte auf vielen früheren Entwicklungen aufbauen – besonders natürlich auf den ersten beiden Conventions in den Jahren 2010 und 2015, aber auch auf politischen Dokumenten, einer lebhaften fachlichen Debatte, einem über die Jahre immer umfangreicheren Wissen über Youth Work in ganz Europa und auf innovativen Initiativen und Qualitätsverbesserungen.
All diese Entwicklungen wurden von einer Vielzahl sehr engagierter Akteur*innen vorangetrieben. Das Besondere am Bonn-Prozess ist, er verbindet zwei Dinge miteinander: eine starke politische Basis durch Dokumente der Europäischen Union und des Europarats und einen langfristigen Umsetzungsprozess, bei dem sich alle einbringen können.
Die Convention 2020 hat also großen politischen Rückenwind produziert, die gesamte Community of Practice in den Mittelpunkt gestellt und eine Menge Motivation freigesetzt!
Ein vielversprechender Start! Hat sich der Bonn-Prozess seit 2020 so entwickelt, wie es sich das Feld erhofft hat?
Alicia: Wir können natürlich nicht für die gesamte Community of Practice sprechen. Aber wir haben festgestellt, dass sich der Bonn-Prozess seit 2020 in unterschiedlichem Tempo entwickelt hat. Einige Länder gingen die Empfehlungen der Convention sehr schnell an und entwickelten nationale Prozesse, bildeten Arbeitsgruppen und starteten enthusiastisch mit der Umsetzung des Bonn-Prozesses.
Einige Organisationen haben auch mithilfe der EU-Jugendprogrammen Projekte gestartet, die zu den Zielen des Bonn-Prozesses beitragen und einzelne Themen voranbringen, etwa die Aus- und Weiterbildung von Jugendarbeiter*innen stärken, das Angebot für noch nicht erreichte junge Menschen ausweiten oder Lobbyarbeit voranbringen. Außerdem stellen einige größere europäische Initiativen oder Prozesse wie etwa die European Academy on Youth Work oder die European Training Strategy Verknüpfungen mit dem Bonn-Prozess her.
Gleichzeitig gehört es auch zum Gesamtbild, dass in einigen Ländern und Bereichen von Youth Work Menschen noch kein konkretes Bild haben, wie sie sich praktisch einbringen können.
Wie hat sich denn in Deutschland der nationale Prozess entwickelt?
Alicia: Auch Deutschland gehört zu den Ländern, in denen der Start eines nationalen Prozesses etwas mehr Zeit brauchte. Ende 2021 hat das BMFSFJ dann die “Transferstelle zur Ausgestaltung der European Youth Work Agenda in Deutschland” eingerichtet und beim Forschungsverbund DJI/TU Dortmund angesiedelt.
Die Transferstelle hat sich vorgenommen, das Wissen und die Sichtbarkeit über die Vielfalt der Kinder- und Jugendarbeit zu erweitern. Außerdem ist ein Schwerpunkt die Ermöglichung von Austausch und Vernetzung der Kinder- und Jugendarbeit von der kommunalen über die regionale, Landes- und Bundes- bis hin zur europäischen Ebene.
Hierzu gibt es u.a. zwei Formate, einen Talk und einen Podcast zum Bonn-Prozess in Deutschland. Die erste Podcast-Ausgabe ist schon einmal sehr empfehlenswert. Darin beschreibt Rolf Witte von der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung den Bonn-Prozess als ein 5.000-Teile-Puzzle.
Über alle Angebote der Transferstelle kann man sich auf der Website transferstelle-eywa.de/ informieren und auch direkt mit der nationalen Kontaktperson Julia von der Gathen-Huy in Kontakt treten. Denn eine wichtige Aufgabe im immer noch ziemlich jungen Bonn-Prozess ist es ja, zunächst einmal ein konkreteres Bild von diesem Prozess und seinen Möglichkeiten zu bekommen. Das gilt für Deutschland wie für andere Länder in Europa.
Elke: Das ist genau der Knackpunkt für viele, um noch einmal auf die Gesamtsituation in Europa zurückzukommen. Hier braucht es unserer Ansicht nach noch mehr Unterstützung, Orientierung und auch konkrete Beispiele, die inspirieren. Bislang sind viele Institutionen, Organisationen, Projekte und Einzelpersonen noch damit beschäftigt, herauszufinden, welche Rolle sie im Bonn-Prozess genau spielen können und wollen. Auch für uns als JUGEND für Europa hat sich das erst im Lauf des Jahres 2021 immer mehr herauskristallisiert.
Es scheint, dass ihr jetzt ein klareres Bild habt. Mit welchem Zweck wurde nun die neue Europäische Servicestelle für den Bonn-Prozess eingerichtet?
Elke: Der Zweck unserer Europäischen Servicestelle, die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) eingerichtet wurde, hat sehr viel damit zu tun, dass wir wirklich vom Bottom-up-Ansatz des Bonn-Prozesses überzeugt sind. Es gibt bereits so viele Initiativen, Projekte und Organisationen, die hart daran arbeiten, Youth Work in verschiedenen Kontexten weiterzuentwickeln. Und es kommen ständig neue Bedarfe und Ideen hinzu. Was wir zusätzlich zu diesem Engagement der Vielen anbieten wollen, sind Möglichkeiten, all diese Initiativen in ganz Europa besser zu vernetzen und die Community of Practice zu unterstützen. Hoffentlich kann der Bonn-Prozess so dazu beitragen, das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer großen Gemeinschaft zu stärken.
Mir hat sich dazu das Bild einer Segelmannschaft aus der Vorbereitungszeit der Convention eingeprägt: die Youth Work Community of Practice stelle ich mir im Bonn-Prozess wie eine Gruppe von Menschen vor, die an Bord eines Schiffes kommt, das zu einem gemeinsamen Ziel segelt. Ob ich nun ein junger Mensch, ein Jugendarbeiter, eine Projektleiterin oder ein Ministeriumsmitarbeiter bin – der Bonn-Prozess ist Teamwork. Und wie beim Segeln liegt es an uns, den Rückenwind zu nutzen, von dem wir vorhin gesprochen haben.
Als Europäische Servicestelle möchten wir allen Interessierten helfen, in das Boot einzusteigen und natürlich die gesamte Crew auf der Reise unterstützen.
Mit welchen Angeboten möchtet ihr die Community of Practice unterstützen?
Alicia: Wir wollen die Community of Practice in Europa unterstützen, indem wir Veranstaltungen organisieren, Informationen und Vernetzungsmöglichkeiten bereitstellen, z.B. über unsere neue Website www.bonn-process.net. Wir möchten auch die nationalen Prozesse unterstützen, indem wir Transparenz sowie Räume für gegenseitige Inspiration und Zusammenarbeit schaffen. Und natürlich wollen wir auch aktiv Impulse zu bestimmten Themen setzen und so zu den Prioritätsbereichen des Bonn-Prozesses beitragen.
All diese Aktivitäten stehen der gesamten Community of Practice offen. Es ist uns sehr wichtig, dass unsere Angebote Prinzipien wie Offenheit, Transparenz und Empowerment folgen. Besonders wichtig ist es uns als Nationale Agentur natürlich, die EU-Jugendprogramme für den Bonn-Prozess zu mobilisieren. Oft brauchen gute Ideen aus der Community of Practice diese Unterstützung und Finanzierung, um tatsächlich wirkungsvoll einen bestimmten Aspekt, eine Praxis oder einen Teilbereich von Youth Work weiterzuentwickeln.
Deshalb haben wir uns mit 16 Nationalen Agenturen und den SALTO-Youth Resource Centres zu einem strategischen Langzeitprojekt zusammengeschlossen. Unter dem Titel " Strengthening youth work in Europe by supporting the implementation of the European Youth Work Agenda! (SNAC EYWA)" arbeiten wir gemeinsam daran, Erasmus+ Jugend und das Europäische Solidaritätskorps für den Bonn-Prozess zu mobilisieren und Projektträger zu unterstützen.
Könnt ihr uns ein wenig mehr über eure neue Website erzählen?
Alicia: Gern! Einerseits dient die Website nach wie vor als Ort für die 3rd European Youth Work Convention. Dort kann man alles über die Geschichte und den Kontext der European Youth Work Agenda und des Bonn-Prozess nachlesen. Aber noch wichtiger ist, dass die Website als zentraler Ort gedacht ist, an dem man etwas über die praktische Umsetzung des Bonn-Prozesses erfahren kann.
Sie soll ein Ort sein, an dem Geschichten aus der Praxis erzählt werden, an dem man sich durch Beispiele aus anderen Ländern inspirieren lassen kann und sich durch einen Newsbereich und einen Newsletter über die wichtigsten Entwicklungen im Bereich von Youth Work auf dem Laufenden halten kann. Außerdem wollen wir Möglichkeiten aufzeigen, wie sich Menschen vernetzen und aktiv am Bonn-Prozess beteiligen können.
Um einen Überblick über die Entwicklungen und die Initiativen zu erhalten, sind wir auf die Bereitschaft der Community selbst angewiesen. Also freuen wir uns sehr, wenn zum Bonn-Prozess passende Neuigkeiten, Veranstaltungshinweise oder Berichte über Aktivitäten mit uns geteilt werden.
Wir freuen uns sehr darauf, die Website zu einem echten gemeinsamen Raum zu machen, und hoffen, dass sie für sehr viele Menschen hilfreich sein wird.
Vielen Dank für all diese Einblicke! Viel Glück und viel Spaß auf der Reise!
(JUGEND für Europa)