30.06.2023

"Ein deutliches Signal für das anhaltende Interesse an grenzüberschreitender Solidarität und Freiwilligenarbeit"

Zitat Heike Zimmermann: Dass junge Menschen sich gesellschaftlich engagieren, sollte unterstützt werden, wo immer es möglich ist.

Das Europäische Solidaritätskorps (ESK) ist ein Engagement-Programm und hat seit seinem Start Ende 2018 einige Krisen gemeistert. JUGEND für Europa im Gespräch mit der Leiterin der Umsetzung in Deutschland, Heike Zimmermann, über Erfolge in schwierigen Zeiten und die Zukunft europäischen Engagements junger Menschen.

JUGEND für Europa: Freiwilligendienste in Europa und lokales Engagement junger Menschen – ein breites Förderspektrum im ESK. Wie passt das zusammen?

Heike Zimmermann: Das Europäische Solidaritätskorps möchte mit seinen unterschiedlichen Formaten möglichst viele junge Menschen erreichen und bietet daher in der Tat ganz unterschiedliche Möglichkeiten sich gesellschaftlich zu engagieren. So können junge Menschen je nach persönlichem Interesse und aktueller Lebenslage entscheiden, welches Format für sie am besten passt. Für den einen kann es der richtige Weg sein, sich über mehrere Monate hinweg als Freiwilliger in einem anderen Land zu engagieren und neben den Projekterfahrungen auch eine neue Sprache und Kultur kennen zu lernen, die andere möchte vielleicht neben ihrer Ausbildung her ein Projekt in ihrer Nachbarschaft umsetzen.

Das Gute ist, dass sich die Formate gegenseitig ergänzen und aufeinander aufbauen. So kann man beispielsweise zunächst für zwei Wochen an einem Freiwilligenteam-Einsatz teilnehmen und, auf diesen Erfahrungen aufbauend, sich anschließend für einen individuellen Langzeit-Freiwilligendienst entscheiden oder aber mit Freund*innen zusammen ein eigenes Solidaritätsprojekt auf die Beine stellen.

Ebenso bietet das ESK gute Anschlussmöglichkeiten für junge Menschen, die über Erasmus+ Jugend erste europäische Erfahrungen gesammelt haben, sei es als Teilnehmende an einer Jugendbegegnung oder über DiscoverEU, und die dabei Lust bekommen haben auf mehr.

Zugleich soll eine möglichst weitreichende und nachhaltige Wirkung erzielt werden, weshalb auch das weiterführende Engagement nach Projektabschluss in den Blick genommen wird, z.B. mit dem Alumni-Netzwerk EuroPeers oder im Rahmen des jährlich organisierten Engagement-Tags für junge Menschen mit seiner Zukunftsbörse zu weiteren Engagementmöglichkeiten.

Die EU-Kommission plant eine Zwischenevaluation des Programms – wie lautet Ihr Fazit?

Das ESK ist ein noch junges Förderprogramm, das vom Start weg mit großen Herausforderungen konfrontiert war - angefangen bei dem verspäteten Programmstart im Herbst 2018, über den Ausbruch der Coronapandemie mit ihren teils gravierenden Reise- und Kontaktbeschränkungen, dem Umstieg auf neue Verfahren der Antragstellung mit der neuen Programmgeneration ab 2021, der leider mit technischen Schwierigkeiten und Verzögerungen verbunden war, bis hin zum Angriffskrieg gegen die Ukraine und seinen wirtschaftlichen Folgen.

Dies alles hat dazu geführt, dass das ESK bisher kaum im Modus eines Normalbetriebs umgesetzt werden konnte. Das gilt es bei der Erstellung des Zwischenberichts zu beachten. Dass dennoch der Bereich der Freiwilligenprojekte kontinuierlich ausgebaut werden konnte, viele Organisationen mit einem ESK-Qualitätssiegel neu in das Programm eingestiegen sind und die Fördermittel in diesem Bereich inzwischen komplett verausgabt werden, betrachte ich als großen Erfolg und ein deutliches Signal für das anhaltende Interesse an grenzüberschreitender Solidarität und Freiwilligenarbeit.

Dazu beigetragen hat mit Sicherheit die Flexibilität, mit der seitens der Europäischen Kommission auf die diversen Krisen reagiert wurde, u.a. mit zahlreichen Ausnahmeregelungen während der Coronapandemie wie auch im Kontext des Angriffskrieges auf die Ukraine sowie mit einer inflationsbedingten Anpassung der Förderpauschalen. Auch dürfte die hohe Förderung von Freiwilligenprojekten im ESK mit einer Pauschale von insgesamt über 1.000,- Euro monatlich zu den Gründen zählen, die das ESK für Organisationen und junge Menschen gleichermaßen attraktiv macht.

Was wäre Ihr größter Wunsch für eine Veränderung im Programm?

Meine Veränderungswünsche beziehen sich zum einen auf das Förderbudget, das deutlich steigen müsste, um dem europaweit wachsenden Interesse an Freiwilligenprojekten gerecht zu werden. Zudem schweben mir weitere Formate vor, mit denen das ESK auf gesellschaftliche Trends reagieren könnte, z.B. die Förderung von digitalem Engagement, generationsübergreifende Ansätze, zeitlich flexiblere Formate für Freiwilligentätigkeiten und ein verstärkter Fokus auf Umweltschutz und Nachhaltigkeit.

Wünschenswert wäre auch eine Förderlinie, die sich an Fachkräfte und Organisationen aus dem Engagementbereich richtet, um Qualitätsentwicklung, Kapazitätsaufbau und europäische Vernetzung zu fördern, da sich das ESK an Organisationen auch jenseits des Feldes der Jugendarbeit richtet.

Wie bewerten Sie den Stand der Teilhabe von jungen Menschen mit geringen Chancen?

Im Europäischen Solidaritätskorps liegt der Anteil an jungen Menschen mit geringeren Chancen europaweit bei ca. 35%, in Deutschland im vergangenen Jahr auf Antragsebene sogar bei erfreulichen 40%. Unterstützt wird diese Tendenz durch Förderinstrumente, u.a. die mit Programmstart eingeführte Pauschale für Inklusionsförderung oder die seit 2021 eröffnete Möglichkeit, bei Bedarf auch nachträglich außergewöhnliche Kosten beantragen zu können.

Im ESK gibt es zudem Formate, die bewusst als niederschwellige Einstiegsformate konzipiert wurden um Teilnahmehürden und Hemmnisse abzubauen. Hierzu zählen insbesondere die Short-Term-Freiwilligendienste und Freiwilligenteams. Das Potential dieser beiden Formate wird bisher jedoch bei weitem nicht ausgeschöpft, weshalb wir hier in Zukunft ein verstärkten Fokus legen werden und dabei sind, Unterstützungsangebote zu entwickeln, wie z.B. die Broschüre "Das inklusive Potential in der Praxis - Freiwilligenteams im Europäischen Solidaritätskorps" (kostenloser Download als PDF-Broschüre)

Im Bereich "Solidaritätsprojekte" werden die Fördermittel nicht ausgeschöpft. Woran liegt‘s?

Solidaritätsprojekte werden bisher nur in relativ geringen Umfang beantragt. Gründe hierfür sehen wir zum einen in der Coronapandemie, von der junge Menschen in besonderem Ausmaß betroffen waren. Auch der recht aufwändige Weg der Antragstellung stellt für junge Menschen sicher eine Hürde dar, wobei zunehmend darauf hingearbeitet wird, jugendgerechte Sprache zu verwenden und die Antragsformulare einfach zu halten. Schließlich gibt es in Deutschland eine ganze Reihe von Förderprogrammen mit vergleichbaren Zielsetzungen, oft auf lokaler oder regionaler Ebene, die meist geringere Fördersummen, dafür aber auch einfachere Zugängen bieten.

Wir sind jedoch zuversichtlich, dass das Format der Solidaritätsprojekte nach den großen Herausforderungen der ersten Programmjahre nun an Fahrt gewinnt. Gute Anknüpfungspunkte sehen wir bei Strukturen, in denen junge Menschen sich längerfristig engagieren, z.B. Jugendverbände, Kinder- und Jugendparlamente, Jugendgemeinderäte, Jugendgruppen in Umweltverbänden oder Alumni-Netzwerke, um nur einige zu nennen.

Wir freuen uns auf jeden Fall über jeden guten Antrag und die Chancen auf Förderung stehen hoch!

Was halten Sie von einer Reintegration des ESK zurück in Erasmus+ Jugend? Täte das dem ESK gut?

Mit Etablierung des Europäischen Solidaritätskorps im Jahr 2018 wurde der bis dahin unter Erasmus+ umgesetzte Europäische Freiwilligendienst ausgebaut zu einem eigenständigen Programm mit zusätzlichen neuen Aktionen und Formaten. Seitens der europäischen Institutionen wurde angestrebt, mit dem ESK eine zentrale Anlaufstelle für solidarisches Engagements junger Menschen in Europa und darüber hinaus zu schaffen.

Es gibt viele inhaltliche und administrative Überschneidungen zu dem Programm Erasmus+ Jugend und beide Programme gemeinsam unterstützen die Ziele der EU-Jugendstrategie. Zugleich setzen die beiden Programm verschiedene Schwerpunkte und richten sich an teils unterschiedliche Zielgruppen.

Während bei Erasmus+ Jugend der Fokus insbesondere auf dem non-formalen Lernen, Kompetenzerwerb und Weiterentwicklung von Jugendarbeit liegt, steht beim ESK die Förderung von Solidarität, bürgerschaftlichem Engagement und sozialem Zusammenhalt im Vordergrund. Die Zielgruppen umfassen im ESK neben Jugendarbeit auch weitere Bereiche wie Umwelt, Migration und Flucht, Behindertenhilfe, Erhaltung des Kulturerbes u.v.m.

Angesichts der aktuellen globalen Krisen erscheint ein europäisches Programm, das junge Menschen darin unterstützt, sich für positiven gesellschaftlichen Wandel einzusetzen, hochaktuell. Wie in der im Mai 2022 verabschiedeten Ratsempfehlung zur Freiwilligenmobilität und den begleitenden Dokumenten beschrieben, kann und soll das Thema Freiwilligenarbeit in Europa weiterentwickelt werden.

Das ESK hat aus meiner Sicht das Potential, diese Entwicklungen zu begleiten und mitzugestalten, und sollte hierfür weiter ausgebaut werden. Ob eine Reintegration zurück in Erasmus+ Jugend hierbei hilfreich wäre, erscheint mir fraglich.

Das Engagement junger Menschen ist ein gesellschaftlicher Reizfaktor – über einen Pflichtdienst wurde gestritten, gleichzeitig sind engagierte junge Menschen unbequem, vor allem, wenn es um den Klimawandel geht. Wie sollte Europa sich ausrichten?

Dass junge Menschen sich gesellschaftlich engagieren, ist zunächst einmal großartig und sollte unterstützt werden, wo immer es möglich ist. Die Pflichtdienstdebatte, die in Deutschland gerade wieder geführt wird, ist da meines Erachtens nicht sehr hilfreich. Es sollte vielmehr darum gehen, jungen Menschen grundsätzlich die Möglichkeit zu geben, an Freiwilligentätigkeiten teilzunehmen, also dann doch eher ein Recht auf Freiwilligendienst statt einer Pflicht dazu.

Ich finde es sehr erfreulich zu sehen, dass in Europa zunehmend mehr Länder eigene Freiwilligendienstprogramme auf den Weg bringen. Dabei haben der Europäische Freiwilligendienst und das Europäische Solidaritätskorps sicher auch eine gewisse Rolle gespielt.

Europa hat den Klimawandel und Umweltzerstörung als existenzielle Bedrohungen erkannt und sich mit dem europäischen `Green Deal´ vorgenommen, bis 2050 ein klimaneutraler Kontinent zu werden. Hierzu sollen alle europäischen Programme beitragen, auch das Europäisches Solidaritätskorps. Projekte im Bereich Umwelt- und Klimaschutz werden im ESK prioritär gefördert und bei allen Projekten soll ein möglichst umwelt- bzw. klimafreundlicher Ansatz verfolgt werden.

Engagierten jungen Menschen bietet sich im ESK mit den Solidaritätsprojekten ein Format, bei dem sie eigeninitiativ in ihrem lokalen Umfeld Projekte zu Umweltthemen auf den Weg bringen können. Eine europäische Dimension haben diese Projekte allemal, da weder Klimawandel noch Artensterben an Grenzen Halt machen. Wenn hierbei unbequeme Themen zur Sprache kommen, dann gehört das dazu.

Liebe Frau Zimmermann, herzlichen Dank für das Gespräch.

(JUGEND für Europa)

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