09.08.2007

EFD - Berlin ist nicht Germany

Erhan Ersöz engagiert sich als Europäischer Freiwilliger bei der Arbeiterwohlfahrt für eine Welt ohne Rassismus

Wenn sich die Humanität einer Gesellschaft daran erkennen lässt, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht, so, wie es der amerikanische Soziologe und Gesellschaftsphilosoph John Rawls einmal gesagt hat, dann kann auch Erhan Ersöz nur zustimmend beipflichten. Wenn der 21-jährige Politikstudent aus Istanbul aber an den Alltag des von alternativen Lebensmodellen bestimmten Berliner Ost-Szene-Bezirks Friedrichshain denkt, kommen Erhan Zweifel. Noch fühlt er sich wohl in diesem Stadtteil, der weit über die Grenzen Berlins hinaus für sein "hippes Image" bekannt geworden ist. Doch die abwechslungsreiche Vielfalt in Friedrichshain ist zunehmend in Gefahr. Auch hier wird die bunte Kiezkultur zunehmend vom Schickeria-Mainstream abgelöst.

Das weitaus gravierendere Problem heißt derzeit aber rechte Gewalt. Mit mehr als 50 Übergriffen im Jahr 2006 ist Friedrichshain zum Spitzenreiter rechtsextremer Übergriffe und Gewalttaten in Berlin avanciert, in diesem Jahr zählte die Antifa bereits 42 Vorfälle. Die Polizei wollte die Zahlen nicht kommentieren. Von Angsträumen, einer trügerischen Idylle und Behörden, die solche Übergriffe immer wieder leugnen, spricht die Initiative gegen Rechts in diesem Bezirk. Erhan ist längst einer ihrer Hauptunterstützer geworden.

Knapp zehn Monate lebt und arbeitet der in Kadiköy, einem asiatischen Stadtteil von Istanbul, aufgewachsene Türke nun schon in der Hauptstadt – als Europäischer Freiwilliger für die Arbeiterwohlfahrt Friedrichshain-Kreuzberg. "Eigentlich hatte ich mit Italien, Frankreich oder Spanien geliebäugelt. Ich wollte erst gar nicht hierher kommen“, verrät Erhan, "als Türke ist man in Deutschland ja nicht gerade ein Exot.“ Doch dann erfährt er von den Projektmöglichkeiten der Arbeiterwohlfahrt, und seine türkischen Kollegen von Greenpeace entsenden ihn ins 2200 Kilometer entfernte Berlin. "Ökologie oder Sozialpolitik – diese beiden Themenfelder kamen für ein Engagement in Frage.“

Bei der Arbeiterwohlfahrt entscheidet sich Erhan für eine Kampagne gegen Rassismus. Seit Januar recherchiert er über den Bezirk Friedrichshain, spricht mit Politikern, vernetzt sich mit Initiativen und lernt die deutsche Bürokratie kennen. "Ich wollte eine kleine Kulturveranstaltung organisieren. Meine türkischen Freunde können nicht glauben, mit wie viel Leuten ich dafür sprechen musste.“

Sprachbarrieren überwindet Erhan schnell. Man versteht sich, wenn man sich verstehen will, ist Erhan sicher und lacht: "Berlin ist eine so liberale Stadt“. Dann wechselt er mal wieder die Sprache. "No, im ernst, Berlin ist nicht Germany.“ Die "bunten Vögel“ von Friedrichshain haben es ihm angetan, "die tragen ja Klamotten, wie sie Lust haben. Bei uns in Kadiköy wäre das unvorstellbar.“ Es sei faszinierend zu sehen, wie die Menschen nicht nur von Freiheit sprechen, sondern Freiheit auch gleichermaßen leben – unabhängig vom finanziellen Hintergrund, auch wenn vielen die Gabe des Lächelns nicht angeboren scheint.

Rassistischen Anfeindungen in Friedrichshain hat sich Erhan selbst noch nicht ausgesetzt gesehen. Doch er weiß, wie schnell es zu Übergriffen kommen kann. "Es gibt unzählige Pöbeleien und Beleidigungen, die nicht protokolliert sind. Es ist wichtig, dass sich die Menschen vor Ort selbst organisieren, dass sie genau hinsehen, was vor ihrer Haustür passiert.“

Ende Juli konnten sich die Friedrichshainer persönlich davon überzeugen, wie Erhan und seine Mitstreiter mit einer Veranstaltung am Boxhagener Platz ein bisschen Unruhe in die "Dominanzkultur“ des Bezirks– so die Initiative gegen Rechts wörtlich – bringen wollten. Unter dem Motto "Wir kommen zusammen und sagen NEIN zu Rassismus“, rief die Arbeiterwohlfahrt zu einer Demonstration auf. Erhan hatte sie organisiert. Auch einige Tage später kann Erhan allerdings noch nicht verstehen, warum der Dauerregen erst mit dem allerletzten Programmpunkt der Kundgebung ein Einsehen hatte. 50 bis 60 Regenschirme hatten die Veranstalter gezählt. Die türkischstämmige Berliner Abgeordnete und Rechtsanwältin Canan Bayram (SPD) hatte die Bewohner Friedrichshains aufgerufen, alles dafür zu tun, damit die rechte Szene den Bezirk nicht noch weiter in Beschlag nehme.

Erhan Ersöz will die Entwicklungen im Berliner Osten jedenfalls auch von Istanbul aus weiterverfolgen. Eigentlich würde er gerne noch länger in Deutschland bleiben. Doch die Universität zu Hause wartet schon wieder auf ihn. "Der Europäische Freiwilligendienst hat mich enorm bereichert“, sagt Erhan, "doch eines werde ichbestimmt nicht vermissen: die Sonntage. Mal im Ernst, wenn die Geschäfte nicht geöffnet haben, was soll man da eigentlich machen?“

(Marco Heuer)

Kommentare

  • theoliene

    29.10.19 14:31

    Kinder- und Jugendrechte

    Wir, das sind lern- und geistigbehinderte Kinder aus dem Kinderzentrum KiZ, Torstraße 153 in 10119 Berlin-Mitte, haben zu diesem Thema einen Song geschrieben. Hierbei geht es hauptsächlich um die Rechte der Kinder und Jugendlichen, Ausgrenzung von Ausländern und Behinderten. Wenn Ihr mehr über uns erfahren wollt, könnt Ihr uns gerne anrufen oder schreiben. Tel.: 030/4496903

    Herzliche Grüße aus Berlin sendet Thea Hermann (ehrenamtliche Mitarbeiterin)

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