18.08.2006

Ausreisen leicht gemacht

Bevor Europäische Freiwillige in den Flieger steigen, machen sie sich auf Ausreiseseminaren fit fürs Ausland. Zu Besuch auf einem Seminar des VIA e.V. in Kassel.

Friederike Ernst sitzt da wie auf glühenden Kohlen: Den Oberkörper nach vorne gebeugt, die Beine sprungbereit, die Arme angewinkelt, ganz so, als wolle sie sich jeden Augenblick davonmachen. Nur ein Wimpernschlag, und die Abiturientin wäre weg. Dann passiert es tatsächlich: Friederike schnellt hoch, will loslaufen. Doch da ist ein anderes Mädchen, das sie nicht gehen lassen will und von hinten festhält. Fehlstart.

"Ich liebe diese Icebreaker-Spiele“, lacht Friederike einen Augenblick später, als das Zuzwinker-Spiel vorbei ist. Die 18jährige ist eine von 30 Seminarteilnehmern, die an diesem Wochenende in Kassel zum Ausreiseseminar des VIA e.V. angereist sind. 30 Jugendliche im gleichen Alter, 30 Jugendliche mit dem gleichen Ziel: In wenigen Tagen brechen sie alle ins Ausland auf, um irgendwo in Europa ihren Europäischen Freiwilligendienst anzutreten. Auf dem Ausreiseseminar wollen sie sich für die Fremde wappnen – dazu gehört auch, in Aufwärmspielen das Eis in der Gruppe zu brechen.

"Ohne Spaß läuft nichts“, erklärt Seminarleiterin Sabrina Boenschen, "aber am Ende zählt, welche Lerneffekte wir erzielen konnten.“ Vier Tage hat die Teamerin, um die angehenden Freiwilligen auf ihren Dienst vorzubereiten. Viel Stoff ist zu bewältigen in der kurzen Zeit: Versicherungsfragen, Tipps zum Sprachenlernen, interkulturelle Kommunikation, Konfliktbewältigung, Aspekte der Sozialarbeit und mehr. "Wir können unsere Teilnehmer nicht auf alle möglichen Situationen im Ausland vorbereiten“, sagt Boenschen, "aber wir können offene Fragen klären und den Teilnehmern ein sicheres Gefühl mit auf den Weg geben. Dann ist schon sehr viel erreicht.“

WG-Streit nachgespielt

Sandra Fahle (19) ist aus der Gegend von Paderborn nach Kassel angereist, mit einem großen Durst nach Informationen. "Die Beschreibungen, die ich von meiner Aufnahmeorganisation habe, sind sehr allgemein“, sagt sie, "hier auf dem Seminar kann ich viele Detailfragen klären.“ In vier Wochen wird sie nach Polen aufbrechen, um in einer Grundschule zu arbeiten. In Kassel will sie sich Tipps geben lassen, wie sie im Ausland mobil sein kann, an wen sie sich in Notfällen wenden sollte, aber auch, wie man sich in Konflikten verhält.

Dazu lässt die Seminarleiterin ihre Teilnehmer Rollenspiele machen. In kleinen Gruppen denken sich die angehenden Freiwilligen Stresssituationen in der WG oder am Arbeitsplatz aus, die sie der Gruppe vorspielen. Gemeinsam wird das Impro-Stück nachvollzogen, analysiert, schließlich werden Lösungen gesucht. Neue Fragen kommen auf, die etwa, ob man sich unbewusst mit den vorherigen Freiwilligen vergleicht und unter Leistungsdruck setzt. "Das hatte ich gar nicht bewusst bedacht“, staunt Sandra.

Genau darum gehe es, erläutert Sabrina Boenschen: "Wir möchten bestimmte Dinge bewusst machen, zum Beispiel, dass in fremden Ländern das Verhalten unterschwellig von anderen Normen und Traditionen gelenkt wird.“ Darum bespricht die Seminarleiterin einen Nachmittag lang mit ihren Teilnehmern die Klippen interkultureller Verständigung, und wie man sie umschiffen kann.

Da macht es sich bezahlt, dass Boenschen selber ein Jahr als Freiwillige in Spanien verbracht hat – immer wieder flechtet sie Beispiele aus ihrer persönlichen Erfahrung ein. Aber auch aus Diskussionen auf Rückkehrseminaren und aus Telefonaten mit Freiwilligen im Ausland weiß sie über die Alltagsprobleme der Jugendlichen im Ausland Bescheid.

Besuch in der Behindertenwerkstatt

Einen Vormittag lang können sich die Teilnehmer Einblick in die Sozialarbeit verschaffen, indem sie soziale Einrichtungen in Kassel besuchen. Diesmal geht es für eine Gruppe in eine Behindertengärtnerei. Zurück von der Exkursion, tragen alle gemeinsam vor dem Flip-Chart ihre gesammelten Gedanken vor. "Was war für euch bemerkenswert, was war überraschend?“, will Sabrina Boenschen wissen. "Auch zwischen Blümchen ist nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen“, hat einer aufs Papier geschrieben. die Seminarleiterin hakt nach, und es entspannt sich eine lebhafte Diskussion um die gesellschaftlichen Vor- und Nachteile von Behinderten-Werkstätten.

"Die Freiwilligen sollen durchaus kritisch an ihre Aufgaben herangehen“, sagt Sabrina Boenschen. "Vor allem machen wir ihnen klar, dass sie Verantwortung übernehmen, und was das bedeutet.“ Wer Freiwilligendienst leistet, muss viele Dinge selber in die Hand nehmen. Darum sollen die Kasseler Seminarteilnehmer den Filmabend eigenständig organisieren. So lernen sie, rasch mit anderen zusammenzuarbeiten und Lösungen zu finden.

"Die Stimmung in der Gruppe ist großartig“, freut sich Friederike Ernst. "Es ist toll, mit Leuten zusammenzukommen, die in genau der gleichen Phase ihres Lebens stehen. Man kann sich gegenseitig weiterhelfen.“ Das Seminar findet sie gelungen, "vor allem die jugendliche Atmosphäre und die unterhaltsame Art und Weise, auch langweilige Themen zu vermitteln. Ich fühle mich jetzt abgesichert und startklar.“

Ihr Rückkehrseminar würde sie gerne wieder mit dem VIA e.V. machen – auch, um die anderen Teilnehmer wieder zu sehen. Erst aber geht es für sie los, zwölf Monate Island. "Ich freu mich schon wie verrückt“, sagt Friederike, und rutscht unruhig auf ihrem Stuhl herum. Ein Wimpernschlag, und sie ist weg. Diesmal wird sie keiner festhalten. (Andreas Menn)

Kommentare

  • friderike

    29.10.19 14:31

    ein dankeschön

    Ich möchte nur los werden, dass ich diesen artikel als sehr gelungen empfinde und geeignet, um die atmosphäre des äußerst wichtigen ausreiseseminars darzulegen. vielen dank. friderike

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