02.10.2006
Luftpost für dich
Auf einem Trainingsseminar in Berlin lernen Teilnehmer aus vier Ländern, wie internationale Jugendaustausche zustande kommen.
Weiße Briefumschläge mit blauem Luftpoststempel. An diesem Nachmittag wandern viele von ihnen von Hand zu Hand. Gerade läuft Andrea zum Nachbartisch, um der italienischen Gruppe einen zu überreichen. Darin enthalten ist ein grüner Briefbogen, auf dem in eiliger Handschrift ein Vorschlag notiert ist: Wollen wir gemeinsam ein Projekt für benachteiligte Jugendliche machen?
Der kleine Briefverkehr ist Teil eines Simulationsspiels, mit dem die Teilnehmer eines Trainingskurses in Berlin lernen, was alles dazu gehört, wenn man mit einer ausländischen sozialen Organisation gemeinsam eine Jugendbegegnung auf die Beine stellen möchte. Eingeladen hat der Berliner Verein „Interkulturelles Netzwerk e.V.“, angereist sind neben deutschen Teilnehmern drei Gruppen aus Bulgarien, Italien und Frankreich.
Eine lebhafte, wahrhaft interkulturelle Gruppe ist zusammen gekommen mit jungen Teilnehmern, die bislang noch vergleichsweise wenig Erfahrung mit europäischen Projekten gesammelt haben. Gesprochen wird auf Englisch, Französisch und Italienisch – was gerade passt. „Die Teilnehmer sollen hier erleben können, wie Austausche überhaupt ablaufen“, sagt die Berliner Seminarleiterin Karin Passebosc. „Bevor man anfängt, an interkulturelle Projekte zu denken, sollte man selbst eines erlebt haben.“
Darum lädt Passebosc die Jugendlichen zu interkulturellen Erfahrungen ein. In Diskussionsrunden werden die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den nationalen Kulturen gesammelt. Eine Stadtralley durch Berlin soll die Stadt unter einem bestimmten Blickwinkel erfahrbar machen – dem Thema Immigration zum Beispiel. Am Ende präsentierten die Jugendlichen unter anderem türkischen Kuchen aus Kreuzberg – erstaunt darüber, wie viele Kulturen sich bereits in einer Stadt finden lassen.
Jasmin Safa arbeitet als Lehrerin in Berlin. „Durch das Seminar habe ich die Stadt mit ganz neuen Augen gesehen“, sagt sie. Als Halbiranerin habe sie ein gespaltenes Verhältnis zum Islam. In der französischen Gruppe sind zwei verhüllte Mädchen dabei. „Wir sind nach einer Weile aufeinander zugegangen und haben uns intensiv unterhalten“, berichtet Jasmin. Die Seminarleiter hatten dazu angeregt, bewusst kulturelle Unterschiede anzusprechen. „Nun kann ich ihre Einstellung besser akzeptieren“, sagt Jasmin.
Ein wenig Auslandserfahrung hat Jasmin bereits gesammelt, aber vom Programm JUGEND hat sie erst hier auf dem Seminar erfahren. Per Flipchart, Beamer und Videos erläutern die Seminarleiter die Möglichkeiten des Programms und erzählen von ihren eigenen Projekten. Für viele ist das völliges Neuland. Um nicht nur Fakten zu präsentieren, sondern die Teilnehmer zu aktivieren, schicken die Seminarleiter sie durch eine simulierte Situation.
Jede Gruppe gibt sich eine Identität in Form einer sozialen Organisation und denkt sich eine Idee für einen Jugendaustausch aus. Per Brief und auf Englisch kommunizieren die Projektleiter in spe mit einer anderen Gruppe, die sich auch Gedanken über ein mögliches Projekt gemacht haben. Dann geht es darum, konkret zu werden und auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. „Dabei können die Teilnehmer sehen, wie internationale Jugendarbeit abläuft – und welches Chaos dabei entstehen kann“, sagt Karin Passebosc.
Jasmins Gruppe stellt tatsächlich schnell fest, dass es gar nicht so leicht ist, sich über Distanz hinweg in einer Fremdsprache zu verständigen. „Es sind eine Menge Missverständnisse entstanden, und irgendwann erwuchs ganz automatisch das Bedürfnis nach einem persönlichen Kontakt.“ Ein Mal dürfen die Gruppen laut Spielregeln an den Tisch der anderen „reisen“ und von Angesicht zu Angesicht das gemeinsame Projekt besprechen. Schon klappt alles viel besser. Irgendwann stehen auch die Budgetpläne und ein genaues Konzept.
Es wäre zu einfach, wenn alles so von der Hand gehen würde, darum hat sich die Seminarleitung ein paar kleine Gemeinheiten ausgedacht: Jede Gruppe bekommt in einem Briefumschlag ein organisatorisches Problem zugewiesen, für das sie Lösungen finden muss. Der bulgarisch-französischen Kooperation fehlen plötzlich die Übersetzer. Rusin Borislavov und seine Kollegen haben sich eine schlaue Lösung ausgedacht: Sie werden Bulgarisch-Studenten aus Frankreich kostenlos am Austausch teilnehmen lassen – gegen Dolmetscherdienste.
Rusin von der deutschen Schule im bulgarischen Burgas ist voll zufrieden mit dem Seminar. „Wir haben schon einige internationale Austausche unternommen, aber mit dem Programm JUGEND hatten wir bisher nicht gearbeitet. Darüber wissen wir nun viel besser Bescheid und wir haben schon eine konkrete Idee für ein Projekt“, sagt er nach seiner Rückkehr in Bulgarien. „Außerdem war die Stimmung in der Gruppe phantastisch! Wir sind 40 Stunden lang mit dem Bus nach Hause gefahren und haben die ganze Zeit nur über das Seminar gesprochen!“
„Die Seminarleiter haben sich unglaublich viele tolle Sachen ausgedacht, um uns aktiv einzubinden“, erzählt Jasmin begeistert. „Malen, Theater spielen, Fühlen – es war alles sehr interaktiv.“ Die Simulation sei sehr inspirierend gewesen: „Ich habe richtig Lust bekommen, selber an einem internationalen Projekt teilzunehmen. Das Seminar hat mir viele Hemmungen genommen. Ich denke nun: Ja, es ist irgendwie machbar!“ Wer weiß – vielleicht sind demnächst schon die ersten echten Luftpost-Briefe mit grünem Papier in Europa unterwegs.
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