17.11.2008
Ein Problem der Ansprache
Für benachteiligte Jugendliche ist Europa weiterhin weit weg
Sie haben sich alle viel Mühe gegeben, doch vielsagender hätte die Veranstaltung im Jugendtreff „The Corner“, einer Anlaufstelle von täglich bis zu 40 Jugendlichen in Berlin-Neukölln, nicht ablaufen können. Drinnen die Erwachsenen, die mit den Jugendlichen während der Europäischen Jugendwoche über zukünftige Herausforderungen und bessere Beteiligungsmöglichkeiten diskutieren wollen. Draußen eine Handvoll Teenager, die sich diesen „Europa-Krams“, wie sie sagen, nicht mehr länger anhören wollen. Der Grund: alles „irgendwie krass-abstrakt“. „In Neukölln ist doch das Meiste in Ordnung. Ok, manchmal ist es hier vielleicht ein bisschen heftig. Aber ich weiß echt nicht, was die heute Abend von uns wollen“, sagt Ali (14). Sein Kumpel Omar (13) nickt zustimmend. Auch er hätte an diesem Dienstag lieber Tischkicker im Warmen gespielt.
Lieber Tischkicker als Europapolitik
Mehr direkter Austausch mit den Jugendlichen ist das Ziel. So jedenfalls haben es sich die Veranstalter von Opera Socialis, Publicata e.V. und dem Kinderradiosender Radijojo im Rahmen ihres „Kiez-to-Kiez“-Programms vorgestellt. Doch eine gemeinsame Sprache mit den Jugendlichen findet sich an diesem Abend nur schwer. „Das haben wir uns sicherlich auch ein bisschen einfacher vorgestellt“, so Projektkoordinatorin Anja Müller.
Beteiligungsmöglichkeiten für Jugendliche in Neukölln? „Die gibt es natürlich“, sagt SPD-Haushaltspolitiker Lars Oeverdieck, und spricht von der Mitbestimmung bei der Investitionsplanung in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV). Doch die anwesenden Jugendlichen haben von einer BVV noch nie etwas gehört und keiner kann sich so wirklich etwas darunter vorstellen.
Der 17-jährige Ibrahim kämpft sich im Gegensatz zu Ali und Omar durch die Veranstaltung. Fast jeden Tag kommt er in den Jugendtreff „The Corner“. IT-Systemtechniker will er einmal werden. Dafür braucht er den Realschulabschluss. „Ich will mich stärker beteiligen“, sagt Ibrahim, „Ich weiß, dass es wichtig ist. Aber mir fehlen die Informationen. Wo soll ich anfangen?“ Seine Freunde interessieren sich nicht für das Thema. Die meisten von ihnen hängen an der Nadel, sagt er. Sein Wunsch an die Politik – mehr Anti-Drogen-Projekte, den Volkspark Hasenheide von den Dealern befreien. „Dann kommen meine Freunde vielleicht wieder auf andere Gedanken“. Oeverdieck hört aufmerksam zu. Mehr soziale Kontrolle im Park, das wäre wünschenswert, so der Politiker. Aber der Bezirk sei nicht für Polizeiangelegenheiten zuständig. Ibrahim ist enttäuscht.
Neuköllner von EuroPeers begeistert
Als sich die Veranstaltung dem Ende neigt, kommen die Jugendlichen doch noch aus der Reserve. Die EuroPeers Sarah (23) und Mira Weihmann (21) berichten über ihren Europäischen Freiwilligendienst, nennen Möglichkeiten, die es gerade für Haupt- und Realschüler gibt, um in Europa aktiv zu werden. Ibrahim will zunächst nicht glauben, dass sich die Angebote auch an Menschen wie ihn richten. Einige Jugendliche haben den Raum wieder betreten. Man will hören, was die beiden jungen Referentinnen zu sagen haben. Mit einer guten Mischung aus Verständlichkeit, direkter Ansprache und Austausch auf Augenhöhe erzielen sie viel Aufmerksamkeit. Ob er denn auch als Fußballtrainer im Ausland arbeiten könne, will ein Jugendlicher wissen. Ein anderer fragt, ob dieser Freiwilligendienst denn eher Arbeit oder Freizeit sei und ein Dritter will herausfinden, wie oft man so einen Dienst denn antreten könne? Natürlich nur, wenn er toll sei.
"Warum bitteschön Europa?"
Neun Kilometer weiter nördlich im Berliner Stadtteil Friedrichshain. In der Galiläakirche diskutieren 25 junge Erwachsene auf Einladung der Hedwig-Wachenheim-Gesellschaft mit Berliner Abgeordneten. Über den Nutzen von Europa in der Hauptstadt soll gesprochen werden. Die Teilnehmer: 18- bis 25-jährige Niedriglohn-Beschäftigte und Empfänger so genannter Aktivierungshilfe – einer Qualifizierungsmaßnahme der Arbeitsagentur für besonders benachteiligte Jugendliche. Ihr sehnlichster Wunsch: Endlich eine richtige Arbeitsstelle finden. Kaum einer von ihnen weiß, dass der Europäische Sozialfonds auch für Weiterbildungsprogramme in Deutschland aufkommt. Überhaupt ist Europa weit weg. Und zu kompliziert, wie sie finden. Eine schnelle Lösung haben auch die Politiker nicht parat.
Konkrete Antworten erwünscht
Dabei erwarten die jungen Erwachsenen konkrete Antworten, die genau auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind. „Wir müssen uns darüber klar sein, dass wir sozial benachteiligte Jugendliche, die in ihrem Alltag eine ganze Menge Probleme zu bewältigen haben, nicht einfach mal so mit der Idee Europa begeistern können“, sagt auch Andy Hehmke, Projektkoordinator bei der Hedwig-Wachenheim-Gesellschaft. „Diese Jugendlichen müssen vor allem emotional berührt werden. Sonst machen solche Veranstaltungen wenig Sinn.“
Hoffnung, dass es schon bald konkreter wird, gibt es allemal. Bereits Anfang kommenden Jahres will sich die Gruppe aus der Galiläakirche noch einmal zu einer Diskussionsrunde treffen. Das hatte SPD-Wirtschaftsstadtrat Peter Beckers zugesichert. Ein Erfolg, genau wie der der Geschwister Weihmann im Neuköllner Jugendtreff „The Corner“. Hier wird es bereits am 21. November eine Folgeveranstaltung geben. Mit konkreten Fragen und konkreten Antworten. Damit der ganze Europa-Krams nicht „krass abstrakt“ bleibt.
(Marco Heuer)
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Nähere Informationen zu den Veranstaltern von „From Kiez to Kiez – Mobilität in Berlin und Europa“ gibt es unter www.publicata.de und www.radijojo.de.
Die Hedwig-Wachenheim-Gesellschaft ist zu finden unter www.diehedwig.org.
Hintergründe zur Europäischen Jugendwoche finden Sie unter www.youthweek.eu.
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