08.07.2010

Der lange Weg zu einem selbstbestimmten Leben - Seminar für Menschen mit Behinderung

Auf Einladung der IB-Behindertenhilfe trafen sich etwa 30 Teilnehmer aus acht europäischen Ländern in der Internationalen Jugendbegegnungs- und Bildungsstätte Hadamar, um über die gesellschaftliche Situation von Menschen mit Behinderung zu sprechen. Das internationale Seminar endete mit der Verabschiedung einer Hadamer Erklärung zur Situation von Menschen mit Behinderung.

Vor zehn Jahren gründete die IB-Behindertenhilfe gemeinsam mit mehreren europäischen Partnern das Netzwerk "Karawane 2000". Seitdem setzt sich die Vereinigung dafür ein, die Belange von Menschen mit Behinderung stärker in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses zu rücken.

Vom 17. bis zum 21. März 2010 tagten Mitglieder der Karawane anlässlich des Europäischen Jahres gegen Armut und soziale Ausgrenzung in Hadamar. Ein geschichtsträchtiger Ort – in der ehemaligen Landesheilanstalt Hadamar ermordeten die Nationalsozialisten zwischen 1941 und 1945 ca. 15.000 psychisch kranke oder geistig behinderte Menschen im Rahmen der NS-"Euthanasie"-Aktionen.

Experten in eigener Sache

Die Teilnehmer der Konferenz "Wake Up Europe" diskutierten in den vier Seminartage über folgende Fragen: Wie hat sich die gesellschaftliche Akzeptanz von Menschen mit Behinderung in den vergangenen zehn Jahren verändert? Welchen Platz nehmen die betroffenen Menschen im Haus Europa heute ein? Hat die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung zu einschneidenden Verbesserungen geführt?

Das Besondere und Wegweisende an ihrer Zusammenkunft: Die Organisationen entsandten jeweils zwei Personen nach Hadamar – einen jungen Menschen mit Behinderung als Experten in eigener Sache und eine Fachkraft. Für Peter Furth, Mitbegründer der Karawane 2000, ist es von zentraler Bedeutung, dass "eine derartige Begegnung inzwischen mit den betroffenen Menschen und nicht für sie durchgeführt wird. So gewinnt das Treffen eine neue Qualität." 

Alle Vorträge und Foren wurden in einfachem Englisch und mit einfachen Thesen gehalten. "Drei bis vier Folien pro Vortrag reichen völlig aus, um die grundsätzlichen Aussagen zu formulieren. Bei Schwierigkeiten konnten die Fachkräfte immer noch assistieren und als Übersetzer helfen", beschreibt Furth die Vorgehensweise.

Vergangenheit und Gegenwart

Zum Auftakt der Tagung sprach die Präsidentin der "Karawane 2000" Magda Skiba über die Werte des Netzwerks. Sie machte deutlich, dass "jeder Mensch in jedem Land die gleichen Grundrechte in Anspruch nehmen kann. Und jeder Mensch verdient als Individuum den gleichen Respekt."

Dr. Uta George, Referentin des Fördervereins der Gedenkstätte Hadamar, erinnerte daran, wie vor nicht einmal 70 Jahren Menschen als "lebensunwert" definiert und in der Tötungsanstalt Hadamar ermordet wurden.

In einem ganz persönlichen Vortrag begeisterte Arnd Kunau die Teilnehmer. Er erzählte, wie er trotz geistiger und körperlicher Beeinträchtigungen seinen Alltag selbstbestimmt in den eigenen vier Wänden meistert.

Dass das selbstbestimmte Leben jedoch nicht einfach, und die gesellschaftliche Situation von Menschen mit Behinderung in den einzelnen Staaten sehr unterschiedlich ist, zeigte das "Worldcafé". In einer lockeren Caféatmosphäre mit landestypischen Spezialitäten auf den Tischen tauschten sich die Teilnehmer über ihre Erfahrungen aus. 

"Diese methodische Vorgehensweise hat sich bestens bewährt", findet Christiane Lensch, eine der Organisatorinnen des Treffens. "Die Menschen finden schneller zueinander, sobald sie sich frei bewegen und ungezwungen aufeinander zugehen können."

"Wir sind Europa!"

Als Ergebnis ihres Treffens formulierten die Teilnehmer die "Hadamarer Erklärung". Trotz zum Teil gravierender gesellschaftlicher Unterschiede in den europäischen Herkunftsländern gelangten die Mitglieder der "Karawane 2000" zu zahlreichen übereinstimmenden Erkenntnissen. Einhellig begrüßten sie die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung als wichtigen Schritt auf dem Weg zur Chancengleichheit.

Die Liste der Verbesserungswünsche und Anregungen ist jedoch weitaus länger. So monierten die Teilnehmer die geringe Beschäftigungsquote von Menschen mit Behinderung in allen europäischen Ländern, die niedrigen Löhne und fehlende Sozialleistungen. Sie kritisierten darüber hinaus, dass die institutionelle Unterbringung im Gegensatz zur gemeindenahen individuellen Lebensform nach wie vor wesentlich verbreiteter ist.

An die verantwortlichen Politiker sowie an öffentliche und private Stiftungen appellierten die Verfasser, Partnerschaften mit ihren Organisationen zu bilden. Sie warben um Unterstützung, damit sich die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung auf den Feldern Familie, Bildung, Freizeit, Arbeit, Gesundheit und Mobilität verbessert. Außerdem forderten sie, gegen Diskriminierung der Betroffenen vorzugehen.

Anregungen für die Arbeit vor Ort

Die Tagungsbesucher zeigten sich abschließend sehr zufrieden mit den Ergebnissen. Kristine Lunte von der lettischen Organisation "Dzivesspeks" meinte: "Die Karawane hat uns geholfen, viele Anregungen und Ideen mit nach Hause zu nehmen, die wir in unserer täglichen Arbeit umsetzen können."

Joseph Borg aus Malta, der für die "Friends of Mount Carmel Hospital Society" arbeitet, wertete die Zusammenkunft als "guten Weg, aktiv voneinander zu lernen. Sich zu begegnen ist viel effektiver als nur übereinander zu hören oder zu lesen."

Mehrere Teilnehmer wünschen, künftig enger miteinander zu kooperieren. Insbesondere die osteuropäischen Betreuer zeigten sich sehr stark an einem intensiven Austausch interessiert. Die anwesenden Fachkräfte bekundeten, wichtige Erkenntnisse und neue Motivation für ihre Arbeit mitgenommen zu haben.

Und so hofft Christiane Lensch, "dass wir mit dieser Konferenz einen Beitrag auf dem langen Weg zu mehr Teilhabe und zu einem selbstbestimmteren Leben von Menschen mit Behinderung geleistet haben."

(Karoline Becker)

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Die "Hadamer Erklärung" im Wortlaut.

Weitere Informationen zur IB Behinderthilfe finden Sie hier.

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