16.08.2011
Europäischer Freiwilligendienst: Kulturschock
Allem Anfang liegt ein Zauber inne … Denkste, manchmal ist so ein Anfang alles andere als zauberhaft. In "bewegt. das magazin mit tatendrang" berichtet Julia Ließneck über ihre ersten Tage als Europäische Freiwillige in Moldawien – und wie sie begann, sich in der Fremde einzurichten.
Gerade geht mein zweiter Tag in Moldawien zu Ende. Dabei ist es erst Viertel Acht. Aber gegen Acht ist es hier dunkel. Ich habe ziemliches Heimweh. Weil ich allein bin in meinem Zimmer und auf die Müdigkeit warte. Für Bücher war in meinem Fluggepäck kein Platz. Für meine Familie leider auch nicht. Das klingt ziemlich traurig; wahrscheinlich deshalb, weil ich gerade erst hier bin und mir alles unwirklich erscheint. Aber ich will ja nicht hinten anfangen, sondern vom Beginn der – wie es mir noch vorkommt – "Reise" erzählen.
Vorgestern in Deutschland klingelte mein Wecker um halb vier Uhr morgens.
Ich war von den kurzen Nächten auf dem Ausreiseseminar ziemlich fertig und hatte überraschend tief geschlafen. Trotzdem ließ mich das Geräusch sofort aufschrecken. Schnell war ich für eine (vorläufig wahrscheinlich letzte) ausgiebige Dusche im Bad verschwunden. Dann anziehen, die Haare machen, schminken, Waschtasche einpacken. Bloß keine Zeit haben, um nachzudenken. Und mit dem Zweifeln zu beginnen.
Papa hat uns wie jeden Morgen Frühstück gemacht, während ich überprüft habe, ob meine Taschen mit allem gepackt sind, was mit muss. Oder zumindest so, dass die Maximalkapazität von 20 kg bis aufs letzte Gramm ausgenutzt ist. Falls mehr erlaubt sein sollte, nahm Mutti zur Sicherheit noch zwei kleinere Reisetaschen mit. Mein Bruder befand sich derweil im Halbschlaf und schien alles nicht recht mitzukriegen. Das änderte sich auch nicht auf dem überraschend kurzen Weg zum Flughafen Tegel, wo ich gedanklich zigmal mein Handgepäck kontrollierte: Reisepass, Ticket, Geld … Alles dabei.
Auf dem Flughafengelände ließ Papa zuerst mich und Mama samt Gepäck aussteigen, um anschließend den richtigen Parkplatz für Terminal C zu finden. Recht euphorisch marschierten wir währenddessen mit meinem Trekkingrucksack, einer Reisetasche und meinem überdimensionalen Handgepäck zum Check-In. Was sollte schiefgehen?
"Schönen guten Tag, einmal nach Moldawien."
"Hier sind Ticket und Reisepass. Könnten wir das Gepäck bei Ihnen wiegen?"
"Nur zu … Na, da können Sie sogar noch ein bis zwei Kilo verstauen."
Was für ein Glück!
"Nur mit ihrem Check-In, sehe ich, gibt es ein Problem. Sie haben kein Visum. Da bräuchte ich ihr Rückflugticket, um zu überprüfen, ob sie innerhalb von drei Monaten ausreisen."
"Wir haben aber noch kein Rückflugticket. Das buchen wir kurzfristig vor Ort."
"Das geht nicht! Ich muss sicher sein, dass Sie wieder ausreisen. In Moldawien lässt man sie ansonsten auch gar nicht rein."
Panik stieg auf. Das hatte mir noch gefehlt. Hatte ich an diesem abschiedsträchtigen Morgen eh nah am Wasser gebaut. Ewig ging es hin und her. Mehrere Male wurde der Vorgesetzte angerufen; selbst eine Notfallnummer wurde gewählt und zur Flughafendame weitergereicht. Doch es nützte alles nichts, und die Zeit rannte.
Also mussten auch wir rennen. Mama und ich im gestreckten Galopp ins andere Flughafengebäude, zum Zoll. Ein Zollbeamte erklärte uns, was wir schon wussten, kam aber immerhin mit mir zum Schalter. Der Beamte versuchte zu vermitteln, hatte aber keinen Erfolg. Wir entschieden uns zum Kauf eines Rückflugtickets, um es später wieder zu stornieren.
Mama und Papa rannten noch mal. Bei mir rannen die Tränen, irgendwann konnte ich mich nicht mehr zusammenreißen. Die Sekunden schlichen. Die Schalterdame versuchte sich rauszureden. Das brachte mir aber nichts. Papa kam zurück gehetzt mit einem vollständig stornierbaren Businessclassticket; kurz darauf Mama mit dem Reisepass. Endlich konnte ich einchecken.
Dann fiel der Dame auf, dass sie das Gepäck für Osteuropa gar nicht abfertigen darf. Zumindest bereitete sie alles vor und ging mit uns zu einem anderen Schalter. Ich wäre am liebsten auf der Stelle umgekehrt und nach Hause gefahren. Doch da war das Gepäck mit dem Fließband verschwunden und es hieß Abschied nehmen. Überraschender Weise kullerten die Tränen nur bei mir und meinem Bruder. Papa machte eine klare Ansage.
"So, Jule. Erstens: Durchhalten. Zweitens: Deine Eltern sind immer für dich da."
Auch Mama sprach mir Mut zu, drückte mich ganz fest: "Jetzt kann es ja nur noch besser werden." Ich legte mein Handgepäck aufs Band. Der Kontrolleur ließ mich noch meine Tasche auspacken, da er einem Gegenstand nicht über den Weg traute, der sich als mein Aquarellfarbkasten herausstellte. Aber dann – tatsächlich – stand ich vor dem Transitbereich und winkte ein letztes Mal durch die Scheiben.
Willkommen in Moldawien
Fast sechzig Stunden sind seitdem vergangen und mein zweiter Tag in Moldawien geht zu Ende. Bei der Einreise habe ich mein sündhaft teures Ruckflugticket natürlich nicht vorzeigen müssen.
Am Chisinauer Flughafen empfangen haben mich zwei Frauen: die Freiwillige Rachel aus London und Oksana von meiner Aufnahmeorganisation. Im Taxi, das keine Gurte, aber einen Riesensprung in der Frontscheibe besaß, redeten wir sehr locker und offen miteinander auf Englisch, was bei Rachel als gebürtige Engländerin und gleichzeitig Stotternde sehr niedlich klingt. Zwischendurch schaute ich aus dem Fenster und was ich sah, gefiel mir – ehrlich gesagt – überhaupt nicht.
Was hattest du erwartet, fragte ich mich. Du bist im ärmsten Land Europas, du solltest glücklich über den Anblick sein.
Der Anblick bestand aus heruntergekommenen stalinistischen Bauten, die jeden Moment einzustürzen schienen. Tun sie übrigens nicht, das weiß ich, seit ich in solch einem wohne. Die Wände sind sogar dicker, als man denkt. Die Fahrstühle in diesen Bauten sind Uralt-Monster. Aber wenn du in den 14. Stock hoch musst, überwindest du dich und steigst ein. Ich wohne bei Natalia. Sie ist meine Gastmutter und spricht nur Russisch, kein Rumänisch oder Englisch. Zum ersten Abendessen winkte sie mich mit den Worten "Ham ham" heran.
Sie hatte mir Tomatensalat mit ordentlich Zwiebeln gemacht und etwas, was ich vage als frittierte Frischkäsebuletten definieren wurde. Ein paar Stockwerke unter uns wohnt die beste Freundin von Natalias Tochter. Kurz nachdem ich angekommen war, kam sie hoch und besuchte uns. Sie ist eine echt nette Frau. Englischlehrerin ohne Arbeit und Mutter eines Mädchens. Zuerst dolmetschte sie zwischen Natalia und mir, dann sprachen nur noch wir beide auf Englisch. Sie erzählte mir, dass jeder Moldawier, der die Möglichkeit hat, wegzieht oder zumindest als Gastarbeiter weggeht. Dass der Fortschritt hier nur sehr langsam kommt. Und dass sie davon träumt, zu ihrer Schwester nach Kanada zu ziehen. Zumindest verdienen ihr Mann und ihr Vater (der auch in ihrer Wohnung lebt) so viel, dass sie einen Internetanschluss haben. So bleibt sie in Kontakt mit ihren Verwandten im Ausland.
Mein Zimmer ist an und für sich ganz in Ordnung. Es hat einen winzigen Kinderschreibtisch und einen Fernseher. Nur einen Schrank gibt es nicht.
Eine kleine Kommode und zwei Schubladen, das ist alles. Die Steckdosen sehen zwar so aus wie in Deutschland, sind aber nicht die Gleichen. An dieser Stelle sei meinem pragmatischen Vater gedankt, der an einen Adapter gedacht hat. Mein Bett ist breit und eigentlich eine ausklappbare (wenn auch hässliche) Couch. Leider hängen meine Füße raus und das Bett ist sehr hart, aber das geht schon. In der ersten Nacht wurde ich trotzdem dreimal wach.
Gestern war mein erster Tag bei meiner Aufnahmeorganisation, ADVIT. Das Büro liegt sehr versteckt. Es ist ein kleiner Raum in einem kleinen Haus hinten in einem Innenhof. Aber es gefällt mir gut dort, gerade weil es so inoffiziell ist. Abgeholt wurde ich am Morgen von einer weiteren Freiwilligen: Helena aus Dänemark. Ein Alternativ-Mädchen mit roten Haaren, Piercing und großen blauen Augen. Sie ist bereits seit zwei Wochen hier und kennt die Stadt schon ziemlich gut.
Im Büro bin ich zuerst in die wichtigsten Dinge eingewiesen worden, bis Natasha, die Chefin, kam, mit der ich bereits E-Mail-Kontakt hatte. Ihr erzählte ich von meiner schwierigen Einreise und dass ein 1.500,- Euro teures Ticket auf sicherem Wege nach Berlin zurück muss. Die moldawische Post schied somit aus. Aber ich habe Glück. Natasha reist für zwei Wochen nach Frankreich und wird das Ticket von dort aus an meine Eltern schicken.
Später gingen wir im größten, aber auch teuersten Supermarkt der Stadt einkaufen. Ich kam mir vor wie bei Rewe. Das liegt vor allem daran, dass Moldawien durch mangelnde eigene Wirtschaft fast alles Essen importieren muss und ich somit zwischen Produkten der Reihe "Gut und Günstig" sowie zahlreichen anderen deutschen Marken wählen konnte. Zudem entdeckte ich voller Freude und Überraschung schnuckelige dunkle Vollkornbrote.
Mein erstes Großprojekt für die nächsten Wochen heißt: Mich einleben und die Stadt erkunden.
Die Umgebung meines Wohnblocks – und vor allem die Düfte – finde ich weiterhin sehr gewöhnungsbedürftig. Ich weiß aber bereits, was "Marshrutkas" sind: Nämlich Busse in Van-Größe, die eine bestimmte Strecke fahren und unterwegs für drei moldawische Lei jeden, wirklich jeden mitnehmen, der an der Straße steht und winkt. Ich habe CVAS getrunken – so eine Art Saft aus Brot, Wasser und Zucker. Wie süßes Bier ohne Alkohol. Und dann habe ich gemeinsam mit den anderen Freiwilligen herausgefunden, dass es in zwei Parks in der Innenstadt öffentliches WLAN gibt. In der Natur, eine nette Idee. Werde ich am Samstag ausprobieren, wenn ich mit meiner Familie skypen will.
Zuhause habe ich mich meinem zweiten Großprojekt gewidmet: Das Zimmer wohnlich zu gestalten. Zwei Stunden habe ich heute geputzt, eine Million ranzige, glotzende Kuscheltiere in Tüten verbannt. Einige der russischen Bucher entfernt, Fotos aufgestellt und ein wenig umgeräumt. Jetzt fühle ich mich wohler. In das Zimmer nebenan ist in der Zwischenzeit Roswita gezogen. Roswita ist ebenfalls Freiwillige und kommt aus Leipzig. Sie hat wahrhaft sehr kurze Haare und eine breitrahmige Brille, was ihr beides gut steht. Zudem ist sie genauso cool und unkompliziert wie ihre Frisur.
Nach meiner Aufräumaktion haben Rosi und ich zu Abend gegessen, uns gegenseitig Fotos gezeigt und ewig gequatscht. Dann ist sie ins Bett verschwunden, und ich habe mich meiner Schreibarbeit gewidmet. Jetzt kann ich getrost schlafen gehen. Bärbel, meine Kuschelente, ruft schon. Morgen fahre ich für drei Tage in ein Dorf im Süden, wo wir ein Einführungsseminar erleben werden. Dann gibt’s wieder was zu erzählen.
(Text und Fotos: Julia Ließneck)
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Julia Ließneck verbrachte von September 2009 bis Juni 2010 ihren Europäischen Freiwilligendienst im "Animation Centre for Youth and Children" in Chisinau / Moldawien. Nach dem anfänglichen "Kulturschock" lebte sie sich schnell ein. Die neun Monate in Moldawien habe sie in vollen Zügen genossen, sagt sie.
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Der Artikel ist abgedruckt erschienen in "bewegt. das magazin mit tatendrang". Das Magazin kann hier kostenlos als PDF heruntergeladen werden.
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