25.01.2012
Jugendinitiative: Von Schülern, die fremdgehen, und Papaya, die helfen, Vorurteile abzubauen
Die Schüler kichern, als ihr Klassenlehrer erklärt, was sie tun sollen. Fremdgehen?? Das klingt in der Tat nach einer Abwechslung zu Mathematik und Deutsch! Doch bei dem Projekt, dessen Name aufhorchen lässt, handelt es sich um eine Jugendinitiative. Die Idee: Schüler und Berufsanfänger sollen sich bewusst mit dem Fremden auseinandersetzen. Ein Erfolgsmodell.
Studenten der Universität Passau entwickelten das Konzept für die Jugendinitiative, die unter dem Dach des Instituts für Interkulturelle Kommunikation in Passau durchgeführt wird. "Interaktiver Parcours zum Erwerb interkultureller Kompetenz", so der offizielle Titel des Projekts. "Schon wieder so schöne Worthülsen, hinter denen sich letztendlich nicht viel verbirgt", mag der eine oder andere argwöhnisch denken. Interaktiv und interkulturell zu sein liegt schließlich im Trend. Doch bei dem Workshop der Fremdgänger steckt mehr dahinter als ein hochtrabender Name.
Ganz konkret: Acht studentische Trainer arbeiten für einen bestimmten Zeitraum mit Jugendlichen an Haupt- und Berufsschulen zusammen. Ziel ist es, die Schüler in Hinblick auf stereotypes Denken zu sensibilisieren und ihnen durch eine spielerische Herangehensweise erkennen zu helfen, wie positiv das Fremde sein kann.
Neuartiges Schubladendenken
Der Passauer Student Stephan Liebscher ist einer dieser studentischen Tutoren und erklärt, wie der Parcours zum Fremdgehen aufgebaut ist: An der ersten der insgesamt fünf Stationen schätzen die Schülerinnen und Schüler sich gegenseitig ein, tippen zum Beispiel auf den Musikgeschmack des jeweils Anderen und sprechen über ihre Eindrücke, ohne dass die Person, um die es geht, sich dazu äußern kann.
"Da muss man ertragen, dass Vorurteile über einen gefällt werden und man eingeordnet wird, ohne dass man sich wehren kann", erklärt Stephan Liebscher. "Das ist ein gutes Warm-Up für den Parcours." Im weiteren Verlauf geht es um die Bedeutung von Körpersprache, nonverbaler Kommunikation, um Schubladendenken und das Verlassen der eigenen Komfortzone. "Wichtig ist: Wir machen hier keine Theorie, unser Parcours ist erlebbar, etwas zum Anfassen. Die Jugendlichen erspüren, worum es geht, es ist kein normaler Unterricht", erläutert Liebscher.
An der Station zum Schubladendenken beispielsweise bedienen sich die Schüler an einem Schubladenkasten, der im Raum steht. Die einzelnen Schubladen sind dabei mit Vorurteilen beschriftet wie "Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg", "Alle Muslime sind Terroristen" und "Frauen können nicht Autofahren". In den Schubladen finden die 15- bis 20-jährigen Teilnehmer dann nähere, oft überraschende Informationen zu diesen Themen.
Ursula Reutner, die das Projekt seit August 2010 leitet, betont: "Man denkt oft, dass wir so etwas nicht bräuchten, weil doch sowieso alles klar ist – aber dem ist leider nicht so! Was für einige selbstverständlich ist, nämlich Unbekanntem tolerant und offen zu begegnen, sorgt bei vielen anderen für Klischeevorstellungen, Fremdenfeindlichkeit und einen vorurteilsbehafteten Umgang mit dem Fremden."
Auch für Erwachsene geeignet
Gleichzeitig betont sie, wie wichtig es sei, bereits den Vorurteilen der Eltern gegenzusteuern. Könnte ein solcher Parcours also auch mit Erwachsenen funktionieren? Die Organisatorin und der studentische Trainer sind sich einig: Ja, wenn die Form verändert wird.
"Der Inhalt könnte größtenteils so bestehen bleiben, aber die Herangehensweise müsste selbstverständlich eine andere sein", meint Liebscher. Und Reutner fügt hinzu: "Von einer Volkshochschule im Bayerischen Wald haben wir bereits eine Anfrage. Ich könnte mir den Parcours mit einer Gruppe erwachsener Migranten zum Beispiel recht gut vorstellen."
Vorerst jedoch wollen sie sich weiterhin auf Haupt- und Berufsschulen konzentrieren, denn: "Das Interesse ist riesig, der Bedarf ist da. Wir haben viel mehr Anfragen, als wir annehmen können", so Reutner. Schwierigkeiten, teilnehmende Schulen zu finden, gab es von Anfang an nicht. In Bayern wird das als Jugendinitiative begonnene und geförderte Projekt längst als Erfolgsmodell gefeiert.
Doch kann ein solcher Workshop angesichts der vergleichsweise kurzen Dauer von drei bis fünf Tagen tatsächlich etwas bewirken? Hinterlässt die "Anleitung zum Fremdgehen" Spuren – oder ist der Parcours nur eine willkommene Abwechslung zum regulären Unterricht?
Stephan Liebscher überlegt nicht lange, seinem Auftreten ist anzumerken, wie sehr er hinter dem Projekt steht, als er sagt: "Natürlich versteht nicht jeder jede einzelne Station in allen Einzelheiten, aber darum geht es uns auch gar nicht. Wir sind froh, wenn die Jungs und Mädels ihre zwei oder drei Ideen mitnehmen, die sie besonders beeindruckt haben. Das Ganze ist ja als Impuls gedacht."
An den Schulen finden dann intensive Nachbereitungen und Reflexionsrunden statt. Dass auch die studentischen Tutoren mit ihren Trainings nicht auf einen Schlag alle Probleme lösen können, ist klar – aber sie bieten einen Anfang.
Projektleiterin Ursula Reutner: "An vielen Schulen, aber auch in der Gesellschaft, bestehen Vorurteile, gerade auch interkultureller Art. Das Bewusstsein dafür wächst, inzwischen haben das auch die Politiker erkannt. Viele geben Erklärungen ab und legen Integrationspläne vor, aber oft bleibt es dabei. Wir beginnen praktisch, wir fangen einfach einmal an!"
Auf den Geschmack gekommen
Die Resonanz der teilnehmenden Schulen und die der Schülerinnen und Schüler sind dabei durchweg positiv. Und was nehmen die Organisatoren mit? "Ich bin viel sensibler für Vorurteile geworden – bei Anderen und bei mir selbst. Es ist viel Arbeit, aber auch viel Spaß dabei. Gemeinsam die Meinungen anderer Personen zu hinterfragen und Aha-Effekte auszulösen (und selbst zu erleben), das ist super!", erzählt Trainer Stephan Liebscher.
Und Projektleiterin Reutner meint lächelnd: "Die eigene Komfortzone zu verlassen, daran denke ich in vielen Situationen meines Lebens. Raus aus dem Alltagstrott, raus aus dem, was man immer macht, was man kann, worin man gut ist! Stattdessen den Sprung ins kalte Wasser wagen und etwas Neues beginnen. Das, was wir mit den Schülern an einer unserer Parcours-Stationen durchspielen, das gibt es auf jedem Niveau und in jeder Lebenssituation."
Und zum Schluss die Papaya: An der fünften und letzten Station mit dem Namen "So schmeckt die Welt" dürfen die Schüler exotische Obstsorten probieren. So wird ihnen klar, wie sehr das Fremde schon längst Teil unseres Alltags ist. Die Beobachtung des Organisationsteams dabei: Manchmal fällt es schwer, in eine fremde Frucht zu beißen – doch dann stellen die Schüler erstaunt fest: Die schmeckt ja…! Das anfängliche Zögern und Misstrauen der Papaya gegenüber weicht der Neugierde – und endet in positiven Erlebnissen.
(Elisa Rheinheimer)
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"Fremdgänger" wurde gefördert über die Aktion 1.2 – Jugendinitiativen des EU-Programms JUGEND IN AKTION. Mehr zu den Förderbedingungen von Jugendinitiativen erfahren Sie hier...
Mehr Informationen zum Projekt "Fremdgänger" finden Sie auf dieser Internetseite ...
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