06.11.2012
Europäischer Freiwilligendienst auf dem "Balkon Europas"
Kalina, 20, und Domenico, 23 Jahre alt, waren ein Jahr lang als Europäische Freiwillige in Georgien. Ein Interview über den Aufbruch ins Unbekannte, über internationale WGs, ungewohnte Alltagssituationen und das Glück.
Wenn sie zurückblicken, finden Kalina und Domenico viele Worte für die südkaukasischen Republik: "Zauberhaft, geheimnisvoll, gastfreundlich, wunderschön, tief-religiös, gegensätzlich" sei das Land. Sie haben Georgien; seine Kultur, Traditionen und Gebräuche kennen- und lieben gelernt. Seit wenigen Monaten sind sie zurück in Deutschland und wollen den Deutschen Georgien näher zu bringen. Gleichzeitig wollen sie junge Menschen motivieren, ebenfalls solche Erfahrungen zu wagen.
Hierzu haben Kalina und Domenico Ende Oktober in Berlin die Fotoausstellung "An den Grenzen Europas?" eröffnet - inklusive georgischem Wein, Speisen, landestypischer Musik und einer Präsentation über "ihr Georgien". Der eine oder andere im Publikum bekam Lust auf mehr; - so fragte einer der Besucher am Ende der Präsentation, ob jemand im Publikum vielleicht eine Mitfahrgelegenheit nach Georgien anböte.
Elisa Rheinheimer sprach mit Kalina Lenes und Domenico Janz über ihren Europäischen Freiwilligendienst.
Wo habt ihr euren Freiwilligendienst verbracht – und wie seid ihr überhaupt darauf gekommen?
Kalina: Wir waren beide in Tiflis (Tbilissi). Domenico in einem Hort und ich bei einer Jugendorganisation, die sich viel um Flüchtlingskinder gekümmert hat. Ich bin Halbpolin und wollte zuerst nach Polen oder Russland und dort den EFD machen, aber dann bin ich auf den Kaukasus gestoßen und dachte, das wäre doch auch spannend, mal was ganz Anderes...
Domenico: Ja bei mir war das alles etwas überstützt und unorganisiert. Ich wollte einfach raus und hab eigentlich überhaupt nicht gewusst, was mich erwartet. Ich konnte weder russisch noch georgisch noch richtig englisch, das war eine Herausforderung. Ich bin zuerst zu einem Freund nach Frankreich gefahren und dann mit ihm zusammen mit dem Auto bis nach Tbilissi. Fünf Tage waren wir unterwegs. Losziehen, machen, durchziehen und gucken, was wird, hab ich mir gedacht.
Wie habt ihr denn dort gewohnt?
Domenico: In großen, internationalen WGs, zusammen mit anderen Freiwilligen aus Litauen, Italien, Frankreich, der Slowakei, Griechenland, Lettland,... Das war so toll, so viele Europäer auf einem Platz, und man hat so viel gelernt über die verschiedenen Länder und ihre Sitten, ohne überhaupt da gewesen zu sein! Jetzt haben wir Freunde in ganz Europa und überall einen Schlafplatz.
Kalina:... und Domenico hat dadurch auch super Englisch gelernt!
Und wie schaut es mit der georgischen Sprache aus?
Domenico: Als ich meinen ersten Satz in Georgisch gesagt habe, haben mich alle ganz schief angeguckt und dann laut gelacht. Es hieß nämlich übersetzt so viel wie: "Mutter, ich bin ein großes Mädchen!" Das stand irgendwo in unserem Textbuch...
Was waren eure ersten Assoziationen mit Georgien, bevor ihr losgefahren seid, und woran denkt ihr jetzt als Erstes?
Kalina: Also ich hab vorher an Plattenbauten gedacht und an nicht viel mehr. Jetzt kommen mir vor allem die wahnsinnig netten Menschen und diese warme Kultur in den Sinn, aber auch die krassen Gegensätze, die dieses Land prägen.
Domenico: Mir fallen jetzt als erstes die vielen Parties und gemütlichen Runden ein, das Beisammensein, die Geselligkeit, Tanzen... "Supra" nennt man so eine gesellige Runde. Wir haben unzählige Male mit unseren georgischen Freunden zusammen in der Küche gesessen, gemeinsam gekocht, getrunken, geredet, gelacht. Traumhaft war das!
Habt ihr eine Lieblingsspeise, einen besonderen kulinarischen Tipp?
Domenico: Oh ja! "Lobio", Bohnensuppe. Die ist einfach... hmmmm,... köstlich!
Kalina: Also ich habe das georgische Brot am liebsten, ganz besonders ein Weißbrot, das im Steinofen gebacken wird – "tonis puri" heißt das. Für mich ist das das beste Brot der Welt!
Ihr habt den heutigen Abend unter den Titel "An den Grenzen Europas?" gestellt. Was macht das Fragezeichen da – ist Georgien Europa?
Kalina: Na ja, das ist eben sehr schwierig zu sagen. Die Georgier selbst bezeichnen ihr Land gerne als den "Balkon Europas". Meiner Meinung nach kann man Georgien gar nicht richtig einordnen. Ein bisschen Europa, ein bisschen Asien – Kaukasus halt. Moderne und Tradition vermischen sich total.
Domenico: Ich geb’s zu: Bevor ich losgezogen bin, wusste ich gar nicht, wo Georgien überhaupt liegt, da musste ich erstmal auf der Karte nachschauen!
Kalina: Ich verbinde mit Europa neben Werten wie Demokratie, Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung auch negative Sachen wie das krasse Konsumdenken. In Georgien hatte ich das Gefühl, zählen menschliche Werte noch viel mehr.
Was läuft denn im Alltag in Georgien anders als bei uns?
Kalina: Die Menschen sind zum Beispiel tief religiös! Das orthodoxe Christentum ist quasi Staatsreligion und wenn die Menschen an einer Kirche vorbeigehen, bleiben sie immer kurz stehen und bekreuzigen sich. Das sieht manchmal aus wie ein Flashmob.
Domenico: Sogar im Bus, wenn man an einer Kirche vorbeifährt, bekreuzigen sich alle. Und Hochzeiten und Beerdigungen spielen eine ganz große Rolle im Alltag. Zu solchen religiösen Anlässen bekommt man bei der Arbeit ganz selbstverständlich frei und es herrscht eine große Anteilnahme. Wir haben auch mal viertägige Todeswachen vor einer Beerdigung miterlebt.
Kalina: Religion ist auf jeden Fall immer aktuell und präsent.
Domenico: Ja, und manchmal hemmt sie die Entwicklung, finde ich. Mir ist das teilweise zu traditionell-engstirnig, zum Beispiel was die Rolle der Frau angeht.
Sollten nach der Schule alle einmal eine solche Auslandserfahrung machen? Wäre das in euren Augen eine gute Idee?
Kalina: Ja, das fände ich gut. Ich glaube allerdings nicht, dass alle dafür geeignet sind, denn man muss schon sehr viel Offenheit und Toleranz mitbringen und bereit sein, sich in einer vollkommen neuen Situation zurecht zu finden.
Domenico: Ja, man muss Wagnisse eingehen und das auch wirklich wollen. Und man sollte ohne Vorurteile losziehen. Na ja, so ganz ohne Vorurteile ist man nie, man bastelt sich ja die ganze Welt irgendwie zusammen aus Vorurteilen, man malt sie gewissermaßen aus, wie mit einer Schablone. Aber wenn man dann für einige Zeit woanders lebt und erlebt, wie es tatsächlich vor Ort zugeht, kann man dieses Bild der Welt vollkommen ausmalen.
Kalina: Ich finde trotzdem, dass ein 'EFD für alle' sinnvoll wäre. Erstens wissen ja viele in unserem Alter gar nicht, dass es den Europäischen Freiwilligendienst und all die anderen Möglichkeiten überhaupt gibt. Und außerdem glaube ich, dass der EFD gut für die Welt ist. Das hört sich jetzt vielleicht doof an, aber die Welt wird dadurch friedlicher und toleranter, ganz besonders durch die persönlichen Kontakte – sowohl mit den Einheimischen als auch mit den anderen Freiwilligen aus ganz Europa. Aber ich bin auch Idealistin...
Können wir etwas von den Georgiern lernen?
Kalina: Oh ja, sehr viel. Glücklich sein zum Beispiel. Ich war dort zum ersten Mal so richtig glücklich.
Domenico: Was, echt?
Kalina: Ja, so ein richtiges, tiefes Glücksgefühl. Ich... ach, das ist schwer zu beschreiben.
(Das Interview führte Elisa Rheinheimer / Fotos: Elisa Rheinheimer und Kalina Lenes)
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Die Fotoausstellung wurde finanziert über das EU-Programm JUGEND IN AKTION.
Veranstalter war das "European Intercultural Forum e.V.".
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