07.06.2013
Warum Europa?
Was ist der Sinn und Zweck der EU im 21. Jahrhundert? Hat die EU überhaupt einen Sinn? Warum eigentlich Europa? Warum nicht die ganze Welt? Warum sollen es nicht Deutschland, Italien, Spanien usw. alleine schaffen?
Eine Notiz von Ulrich Beck, verfasst für JUGEND für Europa aus Anlass des Fachkongresses "Building Tomorrow's Europe".
Was ist der Sinn und Zweck der EU im 21. Jahrhundert? Hat die EU überhaupt einen Sinn? Warum eigentlich Europa? Warum nicht die ganze Welt? Warum sollen es nicht Deutschland, Italien, Spanien usw. alleine schaffen? Hier, stenographisch, meine Antwortsuchrichtungen:
Der erste Sinn und Zweck der EU, der gerade wieder wichtig wird, liegt in der Erfahrung, dass aus Feinden Nachbarn wurden; nicht immer gute Nachbarn, Nachbarn, die sich zanken, ignorieren, Stereotypen pflegen, aber eben keine Feindbilder mehr. Vor dem Hintergrund der Gewaltgeschichte Europas, dieser "Krankengeschichte von Irren" (Gottfried Benn) kommt das einem Wunder gleich.
Der zweite Sinn und Zweck Europas lässt sich als Antwort auf die Globalisierung entwickeln. Europa ist eine Versicherungspolice dagegen, dass die europäischen Nationen im schwarzen Loch der Bedeutungslosigkeit verschwinden.
Der dritte Sinn und Zweck lässt sich auf die Formel bringen: Die Zukunft Europas liegt in der Antwort auf globale Risiken. Das Modell der nationalstaatlich-industriekapitalistischen Moderne, das Europa und der Westen dem Globus übergestülpt haben, hat sich als fehlerhaft, ja als selbstzerstörerisch erwiesen. Europa ist (um eine Metapher Bruno Latours aufzugreifen) in der Situation eines Autokonzerns, der feststellt, dass in oder bei seinen Spitzenprodukten die Bremsen versagen und der CO2-Ausstoß Fahrer und Beifahrer vergiftet. Was tut der Konzern? Er ruft sein Produkt zurück! Europa muss sein Modell der selbstzerstörerischen Moderne in die Reparaturwerkstatt zurückholen - sprich: neu denken und politisch neu erproben.
Meine vierte Antwort auf die Frage nach dem Sinn und Zweck Europas ist gleichsam gegen den Stachel gedacht. Alle fragen nach Europa. Aber niemand stellt die Frage nach Europa vom Kopf auf die Füße. Wir müssen nicht nur über die Vision einer anderen europäischen Zukunft nachdenken, sondern auch über die Vision einer "anderen Nation": Wie können das Selbstverständnis der Nation, des Nationalismus und die Kategorie des demokratischen Nationalstaates aus dem Horizont des 19. Jahrhunderts befreit und für die kosmopolitische Welt des 21. Jahrhunderts geöffnet werden? Wir müssen also klar unterscheiden zwischen einem unpatriotischen Nationalfundamentalismus, der sich in Nostalgie flüchtet und vor Europa und der Welt verschließt, und einem kosmopolitischen Nationalismus, der seine nationalen Interessen im kooperativen Bündnis mit den anderen europäischen Ländern weltoffen neu definiert.
Nehmen wir einmal an, in Großbritannien gewinnen die Euroskeptiker die Oberhand und Großbritannien tritt aus der EU aus. Würden die Briten dann einen klareren Sinn ihrer Identität haben? Würden sie mehr Souveränität haben, um ihre eigenen Angelegenheiten zu entscheiden? Nein! Mit ziemlicher Sicherheit würden sogar die Schotten und die Walliser in der EU bleiben; die Folge wäre, es käme zu einer Spaltung des "United Kingdom". Und Großbritannien - nein, England! - würde erheblich an Souveränität verlieren, wenn Souveränität die wirkliche Macht meint, die eigenen Angelegenheiten und die Entscheidungen der Anderen zu beeinflussen.
In meinen Augen ist die historische Situation ausnahmsweise eindeutig: Die Europäische Union ist besser in der Lage nationale Interessen wahrzunehmen als es die Nationen alleine jemals könnten. Um diese Einsicht muss in Europa für Europa gerungen werden.
Mai 2013
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