26.10.2013
EFD-Erfahrungen: Flüchtlinge auf der Strecke
Beim Workshop "Migration, Flucht und Asyl in Deutschland, Europa und weltweit" bekommen die Teilnehmer von comeback 2013 zu spüren, was es heißt, als Asylbewerber in der EU zu leben. Und plötzlich ist die Katastrophe von Lampedusa gar nicht mehr so weit weg.
Stella gerät ins Hintertreffen, alle anderen ziehen an ihr vorbei. Es werden Fragen in den Raum gestellt. Jeder, der die Frage mit "ja" beantworten kann, darf einen Schritt vorgehen. Stella spielt eine 30-jährige Asylbewerberin aus Kamerun. Die erste Frage kommt: "Kannst du es dir leisten, einmal pro Woche ins Kino zu gehen?" Viele machen einen Schritt vorwärts. Nächste Frage: "Könntest du ein Darlehen bei einer Bank bekommen?" Wieder machen einige einen Schritt vor. " Kannst du abends im Bus nach Hause fahren, ohne von aggressiven Jugendlichen angepöbelt zu werden?" Wieder setzen viele der Teilnehmer beherzt einen Fuß vor den anderen. Stella nicht, Stella bleibt buchstäblich auf der Strecke. "Ein blödes Gefühl", stellt sie mit Blick auf die anderen fest.
Mit dieser Übung sollen die Jugendlichen im Workshop "Migration, Flucht und Asyl in Deutschland, Europa und weltweit" sich in die Position von verschiedenen Menschen in Deutschland hineinversetzen. Am Ende der Übung stehen die Jugendlichen, die deutsche Staatsbürger darstellen, auf der einen Seite des Raums. Ihnen gegenüber stehen die Flüchtlinge, Asylbewerber oder Migranten. Sie haben sich fast nicht vom Fleck bewegt.
Die meisten Flüchtlinge in Malta und Italien
300.000 Menschen haben 2011 in der Europäischen Union Asyl beantragt. Mehr als 70 Prozent der Anträge wurden abgelehnt. Die meisten Asylanträge wurden in Malta und Italien gestellt. Besonders Italien erlangte in den vergangenen Monaten eine traurige Berühmtheit in Sachen Flüchtlingspolitik. Erst vor knapp vier Wochen ertranken 390 afrikanische Flüchtlinge vor der Küste Lampedusas. Der Frachter, mit dem die Flüchtlinge aus Somalia und Eritrea von einer libyschen Hafenstadt auf die italienische Insel übersetzen wollten, kenterte kurz vor der italienischen Küste.
Es gibt aber auch Flüchtlinge, denen die Überfahrt nach Lampedusa gelungen ist. Tieble Samake ist einer von ihnen. Letztes Jahr hat der damals 17-Jährige seine Eltern und Geschwister in Gambia verlassen und ist in Richtung Europa aufgebrochen. Fast ein Jahr lang war er unterwegs, zu Fuß durch die Sahara bis er irgendwann in Nordafrika angekommen ist. Von dort hat er dann in einem Boot voller Flüchtlinge das Mittelmeer bis nach Lampedusa überquert und dort Asyl beantragt.
Tieble hatte Glück, sein Asylantrag wurde bewilligt. Von der italienischen Ausländerbehörde wurde er einem Flüchtlingsheim zugeteilt. Dort hat Steffi Möllers ihn kennengelernt, in einem Heim für Asylanten in Bozen. Zehn Monate lang hat die 19-Jährige in der norditalienischen Stadt ihren Europäischen Freiwilligendienst absolviert. "Das war schon eine harte Zeit. Besonders am Anfang konnte ich mit den krassen Schicksalen der Flüchtlinge nicht so gut umgehen", erzählt Steffi. "Wenn dir die Flüchtlinge ihre Geschichte erzählen, dann bekommt die Problematik plötzlich ein Gesicht. Man ist plötzlich selbst viel näher am Thema dran."
Während ihrer Arbeit in dem Asylantenheim hat Steffi viele Flüchtlinge kennengelernt, unter anderem Tieble. Ihm hat sie dabei geholfen, sich Jobs zu suchen, hat seine Bewerbungen ins Deutsche und Italienische übersetzt. Außerdem hat sie bei ihrer Arbeit in der Küche geholfen und im täglichen Betrieb mit angepackt.
Weniger Platz als ein Hund
Solche Flüchtlingswohnheime, wie das, in dem Steffi gearbeitet hat, gibt es auch in Deutschland. Oft sind die Lebensbedingungen in den Häusern unterhalb dessen, was die EU selbst als "menschenwürdig" definiert.
Ein paar Beispiele:
Laut Gesetz steht jedem Asylbewerber eine Wohnfläche von vier bis sechs Quadratmetern zu. Einem Schäferhund hingegen werden vom deutschen Tierschutzgesetzt doppelt so viel, nämlich mindestens neun Quadratmeter, zugesprochen.
Ein Besuch beim Zahnarzt ist für Asylbewerber nur mit amtlicher Genehmigung zulässig, die wiederum nur dann ausgestellt wird, wenn eine lebensbedrohliche Situation vorliegt. Ein Mund voller Karies ist zwar nicht direkt lebensbedrohlich, sollte aus medizinischer Sicht aber trotzdem dringend behandelt werden. Für Asylbewerber jedoch: Keine Chance.
Eine weitere, erhebliche Einschränkung für Asylbewerber in Deutschland ist die Residenzpflicht. Demnach dürfen die Flüchtlinge den Bezirk oder die Stadt in der ihr Antrag läuft, nicht ohne Bewilligung der Behörden verlassen. Für einen Flüchtling in Köln bedeutet das beispielsweise, dass er nicht einfach so seine Verwandten in Berlin besuchen kann. Reisefreiheit? Fehlanzeige. Erst muss das Amt zustimmen. Und das in einem Land, das selbst so stolz auf seine offenen Grenzen ist.
“Hauptsache bleiben dürfen"
Schlussendlich dürfen Flüchtlinge erst dann zum Zahnarzt gehen und sich frei bewegen, wenn ihre Asylanträge bewilligt wurden. 2011 haben nur 1,5 Prozent aller Asylbewerber in Deutschland ein dauerhaftes Bleiberecht erhalten. Den anderen droht weiterhin die Abschiebung.
Tieble hat zwar keine Zahnschmerzen, doch so richtig super geht es ihm heute immer noch nicht. "Er ist arbeitslos, hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser", erzählt Steffi. Hoffnungslos hat sie die Flüchtlinge aber trotzdem nicht erlebt. "Was für uns nach einer perspektivlosen und unbefriedigenden Lebenssituation klingt, ist für die Flüchtlinge trotzdem oft besser als das, was sie in ihrem Heimatland erwartet. Deswegen sind die meisten einfach bloß froh, die Flucht überlebt zu haben und nun an einem sicheren Ort zu sein - und vor allen Dingen auch dort bleiben zu dürfen."
(Merle Sievers, Online-Redakteurin, Köln)
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